Moral ist, wenn man klatscht

Komplexe Gefühle und ebensolche Gedanken: David Alden hat an der Staatsoper Gioacchino Rossinis „Il turco in Italia“ neu inszeniert. Ein Dichter sucht den Stoff für eine Komödie – und findet ihn in den 50er-Jahren

Christine Schäfer, Schülerin unter anderem von Dietrich Fischer-Dieskau, ist wahrscheinlich die ideale Besetzung für die Rolle der Donna Fiorilla. Sie ist keine alles überwältigende Primadonna, sondern vor allem Musikerin, die sich mit dem kostbaren Instrument ihrer Stimme ein beeindruckend breites Repertoire von Bach bis Boulez auch für den Konzertsaal erarbeitet hat. Geradezu verschwenderisch lässt sie dieses enorme musikalische Wissen einfließen in die vergleichsweise bescheidenen Ansprüche, die Gioacchino Rossini an seine Interpreten stellt. Eigentlich müssen sie ja nur schnelle Tonleitern singen können, den Rest besorgt der unwiderstehliche Beat aus dem Orchester, aber bei Christine Schäfer klingen diese immer gleich aufgebauten Nummern mit ihren Haltepunkten fürs Gefühl, die unweigerlich in den Hochgeschwindigkeitsschluss für die Rampe einmünden, wie überaus kunstvolle Lieder, die nicht bloß Gefühle, sondern durchaus komplexe Gedanken zum Ausdruck bringen können

Allein schon dieser Sängerin wegen lohnt sich ein Besuch dieser neuen Inszenierung der eher selten aufgeführten Oper „Il turco in Italia“. Dabei hat sie gar nicht die Hauptrolle, denn diese Komödie ist die Komödie der Entstehung einer Komödie. Sie macht sich über sich selber lustig, und völlig zu Recht hat der Regisseur David Alden deshalb die Rolle des Dichters Prosdocimo ins Zentrum gestellt. Noch vor der Ouvertüre betritt der Bassbariton Alfredo Daza mit Hut, Zigarette und Schnapsflasche die Bühne, die von zwei im spitzen Winkel nach hinten zulaufenden, albtraumhaft gelb-schwarz tapezierten Wänden eingeengt wird. Er sucht verzweifelt einen Stoff für eine Komödie. Das Leben ist überhaupt nicht lustig, für einen Dichter schon gar nicht. Nach der Ouvertüre (leider etwas verwackelt gespielt unter Constantinos Carydis) nimmt er halt, was auf die Bühne kommt: einen Chor lustiger Zigeuner, eine liebeskranke Zigeunerin, dann einen verzweifelten Ehemann, der bei einer Wahrsagerin Rat holen will gegen seinen Kummer mit seiner Fiorilla, die einfach verrückt sei, sagt er in seiner ersten großen Arie, die Renato Girolami ganz prachtvoll singt, aber: Nicht nur das Leben, auch die Komödie ist nicht lustig.

Das wird sie bis zum Schluss nie, denn darin besteht der unvergleichliche Witz dieses Stücks. Komisch ist nur der Dichter, der ständig Figuren hinterherschreibt, die ihm davonlaufen, obwohl er sie doch eigentlich erfinden will. Aber es soll ja sein wie im „wahren Leben“, singt er gleich zu Beginn. Absurderweise gelingt es ihm ebendamit, sämtliche Klischees der Komödie unter einen Hut zu bringen: eifersüchtiger Ehemann, betrogene Betrüger, Zickenkrieg der Frauen – und am Ende kriegen sich doch die Richtigen, nämlich Geronimo seine Fiorilla, die ihn ja eigentlich liebt, obwohl sie Lust auf Abwege hat, und der Türke seine Zigeunerin, die er nur aus Eifersucht verstoßen hat. So ist es eben, im wahren Leben, und am glücklichsten ist der Dichter, der schon vor dem Finale jubelt: Es gibt eine Moral!

Eben nicht. Moral ist nur das, was am Ende jedes Stücks stehen muss, damit die Leute klatschen, und David Alden hat versucht, diese bitterböse Pointe in die Welt der 50er-Jahre zu übertragen. Das ist zwar nicht zwingend, aber auch nicht falsch, weil es ihm und seinem Bühnenbildner Paul Steinberg Gelegenheit gibt, allen möglichen Glamour aufzufahren, an den kein Mensch mehr glauben kann. Es gibt Midnight-Cowboys und Revuegirls, Nachtbars und Playboy-Häschen, aber man versteht das alles nur, wenn man Christine Schäfer singen hört. Mit unglaublich sicher gesetzten Nuancen des Klangs lässt sie Rossinis tiefe Skepsis gegenüber jeder Art des romantischen Überschwangs hören, die ihn zum großen und überraschend aktuellen Komponisten macht. Seine ewigen Floskeln sind Formeln für objektive Gesetze des Theaters wie des menschlichen Verhaltens. Nichts wird verurteilt oder gefeiert, mit mehr Glück als Verstand kommen wir durch zwischen den Klippen der Lust und der Liebe, mehr ist nicht zu haben.

NIKLAUS HABLÜTZEL