Merkwürdige Solidarität

betr.: „Der Ku’damm ist die wahre Fanmeile“, taz vom 21. 6. 08

Es herrscht wieder einmal Ausnahmezustand am Ku’damm, aber nicht weil es um eine große Demonstration gegen Sozialabbau oder gesellschaftliche Missstände in unserem Land geht, sondern weil die Deutsche Nationalmannschaft durch ihren Sieg über Portugal den Einzug ins Halbfinale der Fußball EM geschafft hat.

Alkoholisierte Fans und Pöbel vermischen sich und grölen ihre Parolen ungeniert in die Fernsehkameras, dass einen das Grausen kommen kann. Silvesterknaller und -böller explodieren in der Nachbarschaft, und Hupkonzerte von Autokorsos in allen Teilen der Stadt verhindern die Nachtruhe. Was ist das bloß für eine merkwürdige Solidarität unter den Menschen, die sich ein simples Fußballspiel zum Anlass nehmen, um so fürchterlich auszurasten. Wenn man sich doch nur so solidarisch verhalten würde, wenn es um wirklich wichtige Dinge in unserer Gesellschaft geht.

Da mutet es schon wie Hohn an, wenn ein gewonnenes Fußballspiel mehrere tausend Fans mobilisiert, aber eine Demonstration gegen Hartz IV vor einigen Tagen nur 150 Leute auf die Beine bringt. Die Politiker wird’s freuen, denn sie können im Bundestag ungeniert weiter agieren, und keiner merkt’s im Lande, weil Bürger durch den Fußball kopflos geworden sind und ihr Gehirn ausgeschaltet haben! Und die Medien tun ihr Übriges und übertragen „Fußball satt“: Tag für Tag dasselbe Gelaber mit überflüssigen Analysen, mit der sie billig die Sendezeit von ARD und ZDF füllen können!

Wann erwacht man in Deutschland endlich aus diesem Sommermärchen und wendet sich wieder der Realität zu, die weiß Gott nicht zu solcher Euphorie Anlass gibt! Hoffentlich recht bald und nicht erst, wenn Deutschland – man bewahre uns davor – auch noch Europameister wird! THOMAS HENSCHKE, Berlin

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