Kinder lernen demonstrieren

2.500 Grundschüler aus Kreuzberg und Friedrichshain ziehen mit Trillerpfeifen und Rasseln vor das Abgeordnetenhaus. Mit ihrer Demo gegen „Bildungsnotstand“ protestieren sie gegen Lehrermangel

VON FRIEDEMANN BIEBER

Die kleine Sophia macht sich ganz groß. Auf Zehenspitzen streckt die Neunjährige ihr Banner in die Höhe. Jeder soll es sehen. „Bürgermeister-Herz-Grundschule: Nein zum Kürzungswahn“ prangt in roten Lettern auf dem Transparent. „Wir sind für die Lehrer hier“, erklärt Freundin Lea. Sie demonstrieren, zum ersten Mal in ihrem Leben – und es macht Spaß: „Das ist viel besser als Lernen“, freut sich Sophia.

2.500 krakeelende Kinder ziehen am Dienstagmorgen mit Trillerpfeifen, Rasseln und Protestplakaten vor das Abgeordnetenhaus. Schüler, Eltern und einige Lehrer aus elf Schulen des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg folgen dem Aufruf des Bezirkselternausschusses zur Demo gegen „Bildungsnotstand“. Anlass des lärmenden Aufstands sind Änderungen, die Schulsenator Jürgen Zöllner (SPD) bei den Richtlinien zur Verteilung der Lehrstunden vorgenommen hat. Während die Bezirke Treptow-Köpenick und Pankow von dem neuen Verteilungsschlüssel profitieren, müssen Schulen mit hohem Migrantenanteil, etwa in Friedrichshain-Kreuzberg, mit weniger Lehrern rechnen.

„Lehrer werden gekürzt, Stunden werden gekürzt“, klagt Evelyn Manske: „Immer nur an den Kindern zu sparen – das ist der falsche Ansatz.“ Empört pustet die zweifache Mutter in ihre EM-Trillerpfeife. Früher habe sie auf Demos mit Steinen geworfen, jetzt hat sie Sand mitgebracht. Symbolisch schütten die Kinder vor dem Abgeordnetenhaus die Erde der Spielplätze aus. Zöllners Plänen Sand ins Getriebe werfen, dieses Bild gefällt Barbara Fischer: „Wir wollen keine Umverteilung, wir wollen Kohle“, wettert die Elternvertreterin. Sie hat die Demo mitorganisiert.

Gegen zehn Uhr trafen sich die Schüler am Mehringplatz, um am Checkpoint Charlie vorbei lärmend bis zum Parlament zu marschieren. Dort machen die Kinder vor allem – Krach. Nur beim Konzert der Punkband Die Ärzte und im Fußballstadion hätte er so lärmen dürfen, erzählt der zehnjährige Moritz, die schwarz-rot-goldene Rassel in der Hand. Heute schimpfen die Eltern nicht, sondern feuern ihre Schützlinge an – oder übertönen sie. Ein Vater mit Ohrstöpseln hat seine Trommel auf einen Einkaufwagen montiert.

Wenn es um Bildung geht, werden die Eltern nicht stillhalten – das ist ihre Botschaft. „We all need more education“ rappen die Kinder zusammen mit Johannes Mehnert vom Orchester Populare. „Wir haben viele Integrationskinder“, erzählt Grundschullehrerin Lisa Hövelbernd. „Wenn für die gekürzt wird – das ertrage ich moralisch nicht.“ Konkret verlangen die Eltern die Einstellung von 550 neuen Lehrkräften und die Herabsetzung der Klassengrößen von derzeit 24 auf 20 Kinder im Grundschulbereich.

Auch die Grünen stellen sich gegen die Pläne von Zöllner. „Das ist das Gegenteil von besserer Integration und mehr Chancengleichheit“, kommentiert Manuel Sahib, der grüne Fraktionsvorsitzende in der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg.

Nach 45 Minuten Radau kehren einige Erstklässlerinnen den Sand wieder zusammen, sie räumen das Feld – vorläufig. Weitere Protestaktionen sind angedacht.