Nichts ist, was es scheint

Die Ausstellung „Nordlichter“ in Hannover zeigt künstlerische Suchbewegungen, bei denen es nicht selten um das Fremde im Vertrauten geht. Das „Nordische als Vorstellungsraum“, wie es der Bremer Kunstprofessor Michael Glasmeier einfordert, zeigt sich in Hannover allerdings nicht

Regionales Kunsthandeln lässt sich allein im Kontext des internationalen Kunstmarktes verstehen

AUS HANNOVER JENS FISCHER

Sie flackern, flimmern, illuminieren das Firmament, changieren in Zeitlupe zwischen Grün-, Gelb-, Rottönen. Ein anregend faszinierendes Schauspiel, diese tanzenden Nordlichter – die alle zwei Jahre auch in Hannover zu erleben sind. „Nordlichter“, die Herbstausstellung niedersächsischer Künstler (wobei Bremen immer mitgedacht wird), wird jetzt zum 84. Mal, aber erstmals nicht in der dunklen Zeit der Himmelsfeuer eröffnet, sondern im Hochsommer. Trotzdem leuchten die Kunstideen in prachtvollem Grün, glüht der intellektuelle Witz frech gelb – und faszinierend rot sind die ästhetischen Behauptungen.

„Nordlichter“ ist die selbst ernannt „wichtigste“, sicherlich aber größte Show des Kunstschaffens in Niedersachsen und Bremen. 390 Bewerber gab es, 36 dürfen bis zum 17. August ihre Werke im Kunstverein Hannover, der „NORD/LB art gallery“ und Kunsthalle Faust präsentieren. Ausgewählt wurde so, dass vorab Blumenmalerei et cetera aussortiert worden sei, berichtet Kurator Martin Engler. „Das sind in etwa ein Drittel der eingereichten Arbeiten.“ Eine Jury suche dann die Werke aus, die „besonders eigenständig im Bewusstsein der Tradition“ seien. Ob die Auswahl nach lokalen Gesichtspunkten repräsentativ für die niedersächsische Kunstszene ist, wird unterschiedlich beurteilt. Fakt ist, 39 Prozent der geladenen Nordlichter kommen aus Hannover, 25 Prozent aus Braunschweig, 19 Prozent aus Bremen – den örtlichen Kunsthochschulen sei Dank.

Was zeichnet Künstler nun als Nordlichter aus, außer, dass sie in Niedersachsen oder Bremen geboren wurden oder dort leben? Thematische, stilistische Eigenheiten, irgendetwas Gemeinsames, das man auf den ersten Blick erkennen könnte, gibt es nicht. Das regionale Kunsthandeln lässt sich nur im Kontext des internationalen Kunstmarktes verstehen. Das stört Michael Glasmeier, Professor für Theorie und Geschichte Ästhetischer Praxis an der Bremer Hochschule für Künste. Er verweist in seinem Katalogbeitrag auf den „Geruch des Nordens“ – Stichworte: Salzwasser, Dieselöl – „der die sich ausbreitende ästhetische Standardisierung des Globalen regional übertrumpft“ und das „Nordische als Vorstellungsraum“ etabliere. Die Kulturlandschaft zwischen Küste und Mittelgebirge könne zu einer „Schule der prägnanten Sichtbarkeiten“ werden, „weil sie die Landschaft und die Dinge in Klarheit zelebriert“.

Diese Kulturlandschaft sei „für eine bildorientierte Recherche von Kunststudenten in Bremen, Braunschweig, Hamburg oder Kiel von herausragender Wichtigkeit“, so Glasmeier, es sei denn, die Kunsthochschulen strebten weiterhin an, „den Markt des zeitgenössischen Einerleis und der Unverbindlichkeiten zu bedienen“. Würde die Gegend zur Umgebung gemacht, könnten Detail, Weite, Licht, Flachheit, Atmosphäre, Gelände, Kälte und Unnahbarkeit zu „Kriterien des Kunstmachens“ werden.

Trotz dieser Philippika aus Bremen sind in Hannover nun vor allem verspielte formale Erkundungen und Suchbewegungen nach individuellem Ausdruck zu erleben. Thematisch wird vielfach der Blick durch die Betonung des Fremden im Vertrauten in Frage gestellt. Durch die Herauslösung des Bekannten aus seinen ursprünglichen Zusammenhängen wird ein Moment der Distanz erzeugt. Beispielhaft Lisa Busches Inszenierung der Kunstvereins-Garderobe. „Scheinen“ steht auf dem Wandspiegel, „Täuschen“ auf dem Boden. Mittendrin der Betrachter: verloren in der dreifach verspiegelten Suche nach sich selbst, erfreut durch die Sinnlichkeit des Metaphorischen dieser Installation.

Keine „Nordlichter“-Schau ohne Timm Ulrichs. Er ist seit 1965 fast immer dabei. Jetzt hat er die Worte „kommen und gehen und“ perspektivisch extrem ins Unleserliche verzerrt auf die Wände des Kunstvereins gemalt, durch extreme Weitwinkelobjektive gefilmt und auf vier Monitore übertragen, wo alles wieder hübsch lesbar erscheint. Medienkritik und Nachdenken über den optischen Sinn. Nichts ist, was es scheint.

Schein und Sein ist auch das Thema der Porträtfotos von Bettina Cohnen. Sie lichtet Militaria-Fans in Uniform aus der Froschperspektive ab, so dass die Personen heldisch imposant dem Himmel entgegenwachsen – Dokumentation im Spannungsdreieck Selbstinszenierung-Abbild-Identität. Baldur Burwitz saugt Humor aus der Absurdität, durch die Ausstellungsräume eine gigantische Looping-Achterbahn für einen Treppenlift-Sessel gebaut zu haben, während Andrea von Lüdinghausens Ironie in der Landesbank zelebriert: Mit der fotografischen Inszenierung eines gigantisch in die Wand gebombten Lochs zeigt sie den Weg zum Tresor, zum Geld, zum Glück.

Ebenfalls in der „Nordlichter“-Schau zu sehen sind Videoarbeiten von Sebastian Neubauer und Özlem Sulak, die den Preis des Kunstvereins Hannover gewonnen haben. Während Sulak die Migrationsgeschichte ihrer Familie erforscht, reflektiert Neubauer politisch-philosophische Begrifflichkeiten und führt sie ad absurdum. Zu sehen sind auch Bilder von Degenhard Andrulat, Kunstpreisträger 2008 der Sparkasse Hannover. Er malt in obsessiver Vertikalität Striche auf Wände und Leinwände, dschungelig eng, wie Mikadostäbe verkantet, zu einer Farbgardine verwoben – vor einem sich nie offenbarenden Raum.

Vielleicht ist es ja gerade die Vielfalt der künstlerischen Behauptungen und Potenzen, die den niedersächsischen Kulturraum in nordlichternder Kreativität präsentiert.

28. Juni bis 17. August, Kunstverein Hannover, „NORD/LB art gallery“ und Kunsthalle Faust. Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag, 12 bis 19 Uhr, sonn- und feiertags 11 bis 19 Uhr