unverbremt
: Kann man denn so blind sein?

Keiner sieht den Blinden, dabei sehen sie alles. Und sie hören ihn auch. Wie sein Blindenstock über das Pflaster scharrt, wie er beinahe gegen die Wand eines Geschäftshauses in der Sögestraße läuft und, verzweifelt schon, ruft: „Wo geht es denn hier zur Sögestraße?“

Der Mann ist schon in der Sögestraße, aber keiner sagt es ihm. Sie schlendern und gucken, nein: glotzen, als wäre dieses kleine Drama am Morgen eine kostenlose Vorstellung. Drehen sich um und laufen weiter.

Denken sie: Ach, der wird sich schon zurechtfinden, hat doch einen Blindenstock? Oder dass sich dort selbst ein Blinder mit Krückstock kaum verirren kann, weil die Sögestraße an dieser Stelle, kurz hinter der Obernstraße, nur ein schmaler Schlauch ist? Denken sie das? Vielleicht sind sie so doof. Vielleicht finden sie das witzig: Einen zu sehen, der vor eine Wand läuft. Vielleicht haben sie das ja selbst oft genug erlebt.

Oder wissen sie nicht, wie man einem Blinden hilft? Dann, endlich, sagt ihm einer: „Sie sind schon in der Sögestraße.“ Hilft ihm, die Regenrinne im Straßenpflaster zu finden, an der er sich orientieren kann. Warnt ihn vor Werbeschildern der Geschäfte, die sich ihm in den Weg stellen. Er sagt: „Das macht nichts, an denen säbele ich entlang.“

Schön, wenn er dabei gleich noch einige seiner Zuschauer beiseite gesäbelt hat, bis die sich vor Schmerzen in der Rinne krümmen. Felix Zimmermann