In Harald-Juhnke-Country

Natalie Tenbergs Gastro- und Gesellschaftskritik: Das Diener Tattersall in Charlottenburg ist ein sogenannntes Traditionslokal – und trotzdem angenehm

Die meisten Läden, die sich in Berlin die Tradition auf die Fahnen geschrieben haben, sind eher zweifelhafter Natur. Kleine Eckkneipen, in denen seit Jahren die gleichen Säufer beisammensitzen. Andere, von denen der Besucher gerne glaubt, sie seien Traditionslokale, bedienen im Grunde die gleiche Klientel des klüngelhaften Säufers, nur eben in seiner überkandidelten Ausrichtung. Das Diener Tattersall in Charlottenburg gehört unbestritten zu den Traditionslokalen und ist dennoch eine schöne Ausnahme. Zwar wird auch hier gesoffen, schon der Schauspieler und Sänger Harald Junke soll sich hier um einen guten Teil seines Verstands gebracht haben, aber dennoch ist das Lokal überraschend zugänglich. Man ist hier nicht prätentiös.

Im Gegenteil. Die Bedienung ist eine patente Frau mit blonden kurzem Haar und einer rauen Stimme. Trägt Jeans und duzt die Gäste. Sie spricht mit dem einen fließend Spanisch, mit dem anderen Englisch, drängt nicht auf eine schnelle Bestellung und hat mit ihrer Herzlichkeit, anders als viele jüngere Kollegen in Mitte-Läden, überhaupt keine funktionale Freundlichkeit nötig.

An einem Freitagabend gegen neun ist ihr dunkles, aber uriges Restaurant noch recht leer. Vereinzelt sitzen Menschen an einem der weiß-rot eingedeckten Tische. Man weiß nicht, was höher ist: das Durchschnittsalter des speckigen Mobiliars oder das der Besucher? Die dunkelbraunen Wände wurden mit Reiter- und Waldszenen verziert, überall hängen Bilder von Schauspielern, ehemaligen Gästen. Im vorderen Raum steht eine altmodische Theke, es riecht nach Rauch.

Das extrem bodenständige, aber nicht reizlose Essen ist dank hohen Fett- und Salzgehalts modernen Ernährungserwägungen eher fern. Es gibt Rostbratwurst mit Kartoffeln und Blumenkohl, gemischten Salat, nicht Rucola mit Balsamico, sondern Kopfsalat mit eingelegten Bohnen und Zwiebeln. Ein Coup Denmark draufgesetzt, das ist Vanilleeis mit Schokoladensauce. Wer ins Diener geht, der sollte besser nicht zu Mittag gegessen haben und am nächsten Tag auch noch auf das Frühstück verzichten.

Während man ins Gespräch vertieft ist, bemerkt man plötzlich beim nächsten Aufschauen, dass sich das Lokal gefüllt hat. Und zwar erstaunlicherweise mit jungen Menschen, die in diesem farblichen Einerlei aus Braun und Funzelig wegen ihrer knallpinken Leggings und roten Haarbänder paradiesvogelbunt wirken. Es scheint, als sei das Diener immer noch oder wieder eine Absacker-Institution geworden, wozu es sich wirklich hervorragend eignet. Man sitzt gemütlich, das Bier ist frisch und die anderen Gäste versunken genug in eigene Angelegenheiten, dass man hier fröhlich bis in die Puppen plaudern kann.

RESTAURANT DIENER TATTERSALL, Grolmanstraße 47, 10623 Berlin-Charlottenburg, (0 30) 881 53 29, täglich 18 bis 3 Uhr, Küche bis 24 Uhr, S-Bahn Savignyplatz, Hauptgerichte ab 5 Euro SOMMERPAUSE: Die Gastroseite im tazplan kehr am 26. August zurück. Wenn Sie möchten, dass wir ein Lokal testen, mailen Sie an tazzwei@taz.de