Verheißungen, Verheerungen

Der Schriftsteller Michael Kleeberg hat sich mit seinem Roman „Karlmann“ an eine Hamburger Suche nach der verlorenen Zeit gewagt. Herausgekommen ist ein viel versprechender Auftakt zu einem großen Gesellschaftsroman. Dafür bekommt er heute den Irmgard-Heilmann-Preis

Von MAXIMILIAN PROBST

Dass die kurze Lebensspanne der ersten zwei Jahre den Menschen, die Art und Weise, wie er die Welt erlebt und sich in ihr verhält, grundlegend prägt, hat uns die Entwicklungspsychologie gelehrt. Für den Schriftsteller scheint ein ähnliches Gesetz zu gelten: Es ist die Lebensspanne zwischen Jugend und Berufsleben, die Zeit von 16 bis 26, von denen er sein Arbeitsleben lang zehrt: Indem er die menschlich prägenden Begegnungen, Freundschaften, Liebe und Liebesleid jener Jahre in immer neuen Konstellationen variiert.

Das sagt jedenfalls der 1959 in Stuttgart geborene und heute in Berlin lebende Schriftsteller und Übersetzer Michael Kleeberg. Verbracht hat er die zehn entscheidenden Jahre, in seinem Fall von 1975 bis 1985, in Hamburg. Mit dem Ergebnis, dass Hamburg der Handlungsort fast aller seiner Romane und Erzählungen ist – und dass Kleeberg heute für seinen äußerst ambitionierten Roman „Karlmann“ den Irmgard-Heilmann-Preis entgegennimmt, mit dem die Hamburgische Kulturstiftung in zweijährlichem Turnus die beste literarische Neuerscheinung eines Autors oder Autorin der Hansestadt auszeichnet.

Es steckt eine feine Ironie in der Geschichte, dass die Stadt Hamburg Kleeberg einen Preis verleiht, der mit 7.500 Euro dotiert ist. Denn es war gerade die Begegnung mit dem Geld, die Kleeberg, als er mit 16 Jahren aus Böblingen in die Hansestadt kam, zu allererst und vielleicht am folgenschwersten bewegt hat. „Ich habe bewundernd, wütend, neidisch, hasserfüllt, hechelnd lernen müssen“, sagt Kleeberg heute, „dass die Hamburger Welt von Geld – und dessen Alter – regiert wird, und es ist nicht auszuschließen, dass der Entschluss, Künstler zu werden, auch zum Teil eine Kompensation gewesen ist: Hier habe ich ein Feld, auf dem ich vor eurem Geld gerettet bin und das ihr mit eurem Geld nicht kaufen könnt …“

Nach der Schulzeit beginnt Kleeberg Politik und Geschichte an der Hamburger Uni zu studieren und verdient sich nebenher den Unterhalt mit allen möglichen Dingen: als Journalist arbeitet er für Kino- und Motorsportzeitschriften sowie den NDR, verdingt sich aber auch als Hafenarbeiter oder nimmt einen dreimonatigen Job als Pfleger im Hafenkrankenhaus an. Um des Geldes willen, gewiss, aber wohl auch um der Erfahrung und literarischen Verwertbarkeit willen, denkt man sich, wenn man ihn darüber sprechen hört: Nie werde er vergessen, „wie es ist, um fünf Uhr morgens eine betrunkene 60-jährige Prostituierte ins Entlausungsbad zu stecken und sie mit einer Hand am Stehen zu halten, während man mit der anderen duscht und schrubbt.“

Überhaupt kommt Kleeberg gerne auf den Hafen und den Kiez zu sprechen. Manchmal auch nicht ohne Pathos: „Und Gott weiß, wie prickelnd das nächtliche St. Pauli für einen 18-Jährigen einmal war“, sagt er dann, überwältigt von einer Welt, die ihren Platz nur noch in der Erinnerung hat. Denn das weiß Kleeberg recht genau: „Sein“ St. Pauli gibt es nicht mehr, gibt es nur als Bilder im Kopf, als Bilder, die verwischten, würde er es je unternehmen, sie im Hier und Jetzt zu suchen.

1985 verlässt Kleeberg Hamburg. Über die Stationen Rom, Berlin und Amsterdam landet er schließlich in Paris, wo er bis 1999 lebt. Dieser eigenen Geschichte, seiner Begeisterung für die Ferne und die Kunst, setzt er in dem 2007 erschienenen Roman „Karlmann“ die Geschichte des Hängenbleibens und der Kunstferne entgegen: Der Roman hebt an mit einer fulminanten Beschreibung von Beckers Sieg 1985 in Wimbledon. Auf rund 50 Seiten sehen wir noch einmal Becker hecheln und springen, hören noch einmal Becker jubeln und stöhnen. Dabei nutzt Kleeberg die Rekonstruktion des historischen Endspiels geschickt, um seinen Protagonisten, Charly Renn, einzuführen: Der schaut sich das Spiel mit zwei Freunden im Fernsehen an. Es ist just der Tag seiner Hochzeit, dem Spiel wird ein rauschendes Fest in einem vornehmen Elbvorort-Etablissement folgen und Beckers Triumph, der Sieg eines ungesetzten, ungewöhnlich jungen Spielers in dem wichtigsten Turnier der Welt, erfüllt Charly mit der Gewissheit, dass auch sein Leben sich jetzt als fortwährender Siegeszug vollziehen wird.

Aber Kleeberg, der die ersten beiden Bände von Prousts Recherche neu übersetzt hat, schreibt einen klassischen Desillusionierungsroman: Er beginnt mit der Verheißung– und zeigt dann, mal mit intellektueller Verve, mal mit lustvollem Voyeurismus, wie die vergehende Zeit unweigerlich Verheerungen am Menschen hinterlässt. Fünf Jahre begleitet der Schriftsteller so seinen Helden Charly Renn und durchleuchtet minutiös anhand einiger, weniger Stunden sein Leben. Es ist ein den gewohnten Göttern namens Sex und Erfolg gewidmetes Leben, ein Leben, das als exemplarisch gelten kann für die Gesellschaft der 80er Jahre,in der jeder Wert zur Ware mutierte. Weshalb „Karlmann“ auch ganz in der Tradition der großen Gesellschaftsromane steht, in denen ein Einzelschicksal nur in sofern relevant ist, als es zur Erhellung des Ganzen dient. So verwundert es auch nicht, dass Kleeberg „Karlmann“ als Beginn eines Zyklus konzipiert hat. Auf lange Sicht, sagt er, werde der Roman wohl „eine Suche nach der verlorenen Hamburger Zeit“.

Eine nette Anekdote plaudert er schon mal aus: Einmal sei er mit einer hübschen, platonischen Freundin in einem eleganten, geliehenen Wagen ins Café gefahren: „Sie am Steuer mit Lederhandschuhen, Sonnenbrille, weißem Seidenschal, ich daneben, mich einen Tag lang als echter erotischer Hochstapler in den neidischen und bewundernden Blicken aller Männer sonnend.“ Und das Allgemeine im Besonderen entdeckend resümiert er: „Schriftstellerglück: Bilder produzieren, die schön sind, aber nicht wahr sein müssen.“

Fotohinweis:Michael Kleeberg (links) war im Februar der Stadtschreiber von Mainz. Dort zeigte er sich den Fotografen vor einer Kopfbüste von Johannes Gutenberg Foto: dpa