„Wie ein Embryo im Mutterleib“

Heide Marie Voigt ist durch das dicht besiedelste Stück Deutschlands gepilgert: von Bremen nach Köln. Auf dem Weg hat sie Erfahrungen mit Lärm, Regen und Männern im Wald gemacht – und Raum- und Glücksgefühle erlebt

HEIDE MARIE VOIGT, 65, ist Tänzerin, Künstlerin und Pädagogin und betreibt in ihrem Reihenhaus in Bremen-Kattenturm die „Zimmergalerie“. Ihre bisherigen Pilgererfahrungen hat sie in dem Buch „Im Weg“ (Geest-Verlag Vechta-Langförden) notiert.

INTERVIEW HENNING BLEYL

taz: Frau Voigt, der traditionelle Pilger-Grund besteht darin, Schuld zu „sühnen“. Was haben Sie auf dem Kerbholz?

Heide Marie Voigt: Ich bin nicht sehr bußfertig. Ich wollte einfach raus – und mich der Frage stellen, wie viel ich bewältigen kann.

Den französischen Teil des Santiago-Wegs kennen Sie bereits, diesmal sind Sie von ihrer Bremer Haustür aus losgewandert – sozusagen als Pionierin des geplanten Santiago-Wegs aus dem Nordwesten über Köln nach Cluny. Wie hat sich Ihr Heimatbild dabei verändert?

Ich fand es sehr spannend, aus dem Vertrauten herauszuwandern. Im Gegensatz zu Frankreich ist man in Deutschland als Pilgerin ja ohnehin eine Exotin. Das ist etwas, was man spürt, aber auch ganz konkret an den fehlenden Herbergen merkt. Ich habe mir dann mit dem „Dachgeber“-Verzeichnis des ADFC [Allgemeiner Deutscher Fahrradclub, d. Red.] beholfen.

Ist der Weg wenigstens gut ausgeschildert?

Teilweise. Oft wird nur auf schon bestehende Wege verwiesen. Es gibt offenbar versicherungsrechtliche Probleme, wenn man das Ganze offiziell als Santiago-Pilgerweg ausweist. Dass mich der Weg insgesamt deutlich mehr angestrengt hat als in Frankreich, liegt wahrscheinlich an meiner skeptischen Haltung gegenüber Deutschland aufgrund der Nazi-Vergangenheit. In Frankreich war ich zudem weit weg von der Gegenwart. Hier habe ich durch die abendlichen Gespräche mit den Gastgebern sehr viel von unserer Hartz-IV-Realität mitbekommen.

Angeblich verlaufen die Santiago-Wege entlang der „Erdfeldlinien“. Was halten Sie von so einem eher esoterischen Pilgerzugang?

Das mit den Erdfeldlinien kann man denken – oder man kann es wahrnehmen. Ich konnte so etwas nicht spüren, also muss ich es dahingestellt sein lassen. Was ich auf dem Weg gefunden habe, ist ein Glücksgefühl: geborgen zu sein, aufgehoben in der Welt.

Inwiefern?

Man ist in Bewegung, spürt sich vom Boden bis zu den Bäumen. Das ist vielleicht so, wie sich ein Embryo im Mutterleib fühlt. Die konkrete, stoffliche Verbindung zwischen mir und dem Baum zum Beispiel besteht ja aus Luft. Und die gibt mir durchaus Halt – ich falle nicht durchs Universum.

Pilgern scheint irgendwie ein Mittelding zwischen Yoga und Joggen zu sein. Aber kann das funktionieren, wenn man durch das dicht besiedeltste Stück Deutschlands wandert?

Auch auf einer viel befahrenen Autostraße kann man allein sein. Und Lärm stresst nur dann, wenn man ihn abwehrt, wenn jede Körperzelle sozusagen einen Panzer bildet. Das gilt übrigens auch für Regen.

Den soll man auch positiv in Empfang nehmen?

Natürlich! Man ist halt pitschnass, aber beim Gehen friert man ja nicht.

Seit Hape Kerkeling ist Pilgern wieder ein bisschen Pop geworden. Stört Sie das als seriöse Sinn- und Wahrnehmungssucherin?

Ich empfinde Kerkelings Buch durchaus als ernsthafte Auseinandersetzung. Aber für mein eigenes Buch war es natürlich schlecht, dass Kerkeling bereits auf dem Markt war.

Ihr Buch heißt „Im Weg“ und dort taucht immer wieder das Wort „Gedankengeklapper“ auf. Sind Sie das beim Pilgern losgeworden?

Ich habe zumindest die Erfahrung gemacht, dass das Pilgern zu mehr Ehrlichkeit auf einer emotionalen Ebene verhelfen kann. Zum Beispiel wurde ich ja ständig gefragt, ob ich als Frau allein unterwegs nicht Angst hätte. Wenn ich dann im Wald einem Mann mit einem großen Hund begegnet bin, habe ich versucht herauszufinden, welche Prägungen wirksam werden. Etwa: Die Frau muss immer Angst haben. Verschüchterte Männer – so einer war es dann – kamen früher in meinem Weltbild gar nicht vor.

Was passiert, wenn man nach einer vierwöchigen Wanderung wieder mit dem Zug nach Hause fährt: Ist man in drei Stunden „zurück auf Start“ oder bleibt etwas verändert?

Die Raumwahrnehmung ist schon extrem anders, das merke ich auch ein Jahr später noch. Man guckt in die Landschaft nicht wie in einen Fernseher, sondern fühlt eine körperliche Verbindung. Das ist schon ein ziemlicher Gegensatz zu den 30 Zentimetern Raum, den man sonst so zwischen sich und seinem Computerbildschirm hat.

Demnächst beginnen Sie Ihre dritte Pilgerschaft, diesmal von Köln nach Cluny. Wie ist der erste Schritt?

Ich freue mich auf ihn. Aber mit so etwas wie dem „Pilgersegen“ bin ich eher vorsichtig: Rituale können auch eine Falle sein.

Wollen Sie eigentlich irgendwann in Santiago ankommen?

Man sagt ja immer: „Santiago ist hier“ und meint damit, dass es nicht auf das Ziel ankommt. Aber als alter Mensch geht man ja beispielsweise durchaus auf den Tod zu. Das alles ist im Jakobsweg enthalten. Da gibt es schon so einen unterschwelligen Sog.