Der Doktor hat Pillen verschrieben

Kiffer stehen zur Nationalhymne auf, auf einer Brückenruine leben seltene Vögel, ein DJ taucht im Fluss, und Berlinurlauber reden in vielen Sprachen. Ein Streifzug entlang der Spree im Vorfeld des Bürgerentscheids „Mediaspree versenken“

VON DETLEF KUHLBRODT

Mit diesen Bürgerentscheiden ist es so eine Sache. Nachdem ich mich an den letzten beiden nicht beteiligt hatte, verzichtete man behördlicherseits diesmal darauf, mir eine Abstimmungsberechtigungsbenachrichtigung zu schicken. Kann auch sein, dass ich sie übersah, weil ich die Angewohnheit habe, meinen Briefkasten zumüllen zu lassen. So war ich jedenfalls erstaunt, als mir vor ein paar Tagen jemand von diesem Mediaspreeirrsinn erzählte.

Es ist ja ein großer Irrsinn, zwischen Elsen- und Jannowitzbrücke alles zuzubauen und auf diesem Gebiet am schönen Ufer der SpreeMedien- und Kommunikationsverbrecher anzusiedeln, als wenn's davon nicht schon mehr als genug gebe. Außerdem handelt es sich ja auch um Unternehmen einer letztlich doch teils sterbenden oder zumindest lächerlichen Branche: Die Musikindustrie verdient ihr Geld vor allem mit Klingeltönen, und Fernsehen gucken nur noch über 40-Jährige.

Außer Fußball. Viele Tage der Fußballeuropameisterschaften verbrachte ich auf dem schönen, großen Gelände des Strandmarkts des White Trash in der Holzmarktstraße 24. Das Weizenbier kostete 3,50 Euro, aber sonst war es schon ganz schick und interessant. Im Grunde genommen ein schöner Urlaub in der Stadt. Barfuß gehen, auf Liegestühlen Sonnenuntergänge angucken, Tischtennis spielen, rauchen, trinken, Leute beobachten. Manches ist auch seltsam: dass da und dort gekifft wurde und zugleich viele Fußballbeobachter bei der deutschen Nationalhymne aufstanden zum Beispiel. Das hätte es in meiner Jugend nicht gegeben. Da galten Kiffer als doofe 68er-Hippies, und jeder, der bei der deutschen Nationalhymne aufgestanden wäre, wäre als Nazi beschimpft worden.

Gegenüber, im Kiki Blofeld, guckten auch alle Fußball, und einen Eingang weiter, in der Bar 25, sind die Techno-Hippies. Die Betreiber wohnen, glaube ich, auf dem Gelände und führen ein schönes, alternatives Leben. Seltsam ist die Mischung: einerseits Restaurant, Guesthouse und im Circus Veranstaltungsort für Lieder von Christian Morgenstern zum Beispiel; andererseits Technoclub mit romantischer Nachtbeleuchtung, Spielplatzschaukel und Fotoautomat.

Früher hatte die Bar 25 ein großes Renommee. Wenn der Morgen schon begann und man selber sich recht müde und fertig fühlte, sagte immer einer: „Lassma in die Bar 25 gehen. Da geht noch was.“ Man selber ist dann nach Hause gegangen und die anderen eben in die Bar 25. Dem DJ Peter Grumnich fielen dann seine Sachen in die Spree. Er sprang tatsächlich hinterher, fand die Sachen trotz angestrengten Tauchens aber nicht wieder.

Vielleicht war es tatsächlich auch nur einmal vor ein paar Jahren in einer Nacht, nach dem Karneval der Verpeilten, dass Freunde ständig von der Bar 25 redeten, aber aus einen einzigen Mal in der Echtzeit wird ja oft „immer“ in der Erinnerung.

Im Frühjahr kam ein Musikvideo heraus, dass in der Bar 25 spielte und die Bar 25 thematisierte. Es heißt: „1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 …“ und steht als Selbstbild wohl auch auf der Internetseite des Clubs. Im Video sieht man lustige Technohippies mit Hüten nackt übers Gelände der Bar 25 hüpfen. Der Text des schlagerhaften Lieds geht so: „Der Doktor hat gesagt, ich sei gestört./ Ich müsste schnell in eine Klinik nach Danzig. / Dabei hab ich nur ein bisschen Techno gehört, in der Bar25. // Der Doktor hat mir Pillen verschrieben. / Die soll ich nehmen, jeden Tag. / Doch ich bin bei den alten geblieben,/ weil ich die einfach lieber mag.// 1, 2, 3, die Sonne brennt – Party, Party – keiner pennt./ 1, 2, 3, 4, 25 – nein, ich fahre nicht nach Danzig!“

Die Bar 25 ist also euphorie- und rauschinteressiert und bekennt sich zur eigenen Neurose. Beim letzten Besuch dort fiel uns auf, wie viele Sprachen gesprochen werden. Wie im Club der Visionäre waren schätzungsweise zwei Drittel der Besucher Urlauber aus Spanien, Frankreich, Portugal, England und Japan, die hier ein supertolles Wochenende erlebten, während wir leicht alterssenil und gelangweilt herumstanden. Ein bisschen war es wie Techno in den Neunzigern, nur eben viel internationaler.

Und das ist wahrscheinlich auch der einfache Punkt bei der ganzen Mediaspreegeschichte: falls die Spree wie geplant mit seelenlosem Medien- und Kommunikationsdreck zugebaut wird, werden Urlauberparadiese zerstört, die es in dieser Art in keiner einzigen Billigfliegergroßstadt der Welt gibt!

Vor allem müsste aber wohl der wunderschön romantische Brückenrest in der Mitte der Spree, auf der Höhe der Brommystraße dran glauben. Diese Ruine aus dem Zweiten Weltkrieg ist mein persönliches Spreehighlight. Sie ist geformt wie ein Schiff und sieht aus wie eine geheimnisvolle Insel mit Bäumen und seltenen Vögeln.