Ein Katastrophensüchtiger

Frank Göhre spürt dem Begründer des deutschsprachigen Krimis nach: „MO. Der Lebensroman des Friedrich Glauser“

Es gebe ja im Grunde nichts Uninteressanteres als das Leben eines Morphinisten. Das schreibt Friedrich Glauser (1896–1938) in der für ihn typischen Mischung aus Selbsterkenntnis und Koketterie, die eine tiefsitzende Verzweiflung allenfalls notdürftig kaschiert. „Es beschränkt sich auf Perioden, in denen er das Gift nimmt, und auf Perioden, in denen die Gesellschaft ihn zwingt, sich das Zeug wieder abzugewöhnen.“

Frank Göhre hat sich dennoch des Lebens des Morphinisten, Zuchthäuslers und Irrenanstaltinsassen Glauser angenommen, der mit seinen Kriminalromanen in den Dreißigerjahren den Grundstein und zugleich die ästhetische Messlatte des Genres gelegt hat. Sein knarziger Kommissar Studer hat für so manchen jener eigenbrödlerischen Ermittler Pate gestanden, die es heute zu Kultstatus gebracht haben. Einen „Lebensroman“ nennt Göhre, selbst Krimiautor und in der Vergangenheit bereits Herausgeber von Glauser-Texten, seine biografische Erzählung und zeigt sich darin als guter Schüler Glausers. Fakten, Daten, all jene ohnehin hinlänglich bekannten Lebensstationen des Schweizer Schriftstellers interessieren Göhre nur am Rande.

Sie bilden lediglich das Gerüst für den Versuch, dem Bild eines Mannes nachzuspüren, der so gar nicht in das Bild hat passen wollen, das die Gesellschaft seiner Zeit vom Sohn eines Professors und Leiters einer Handelsschule hätte haben mögen. Gerade volljährig ist Glauser, als der Vater ihn wegen „liederlichen und ausschweifenden Lebenswandels“ entmündigen und einen Vormund für ihn einsetzen lässt. Glauser, der in der Fremdenlegion zum ersten Mal an Morphium – „MO“ – gerät, um das von da an sein Leben kreisen wird, trägt in den ihm verbleibenden zwei Jahrzehnten nicht unwesentlich dazu bei, die Vorbehalte des Vaters und seiner Umgebung zu bestätigen. Er fälscht Rezepte, stiehlt, begeht mehrere Selbstmordversuche und steckt im Morphiumwahn sein Zimmer an.

Was Glauser selbst mit der doppeldeutigen Formel der „Katastrophensucht“ beschreibt, das blendet Göhre in seinem Lebensroman in kurzen, hart aneinandergeschnittenen Szenen auf: die Hassliebe zum Vater, dessen unerbittliche Autorität den Ursprung von Glausers Elend bildet und dem er doch immer wieder zu gefallen versucht (die Mutter stirbt, als Glauser vier Jahre alt ist). Die Aufenthalte in Zuchthäusern und Irrenanstalten, die bei aller Demütigung doch immer beruhigend auf Glauser wirken und den Getriebenen kurzzeitig aufatmen lassen, bevor er sich in das nächste Unglück stürzt.

Wenn Göhre in seinen montierten Szenen Fakt und Fiktion miteinander verschneidet, dann ist er umso näher dran am Menschen Glauser, dem in seinen Rauschzuständen mehr und mehr die Grenzen von Wirklichkeit und Einbildung durchlässig werden. Zugleich liefert Göhre aber auch eine kleine Poetologie des Autors Glauser, dem das Schreiben zur Möglichkeit wird, die Beschädigungen und Brüche einer nur scheinbar intakten Gesellschaft auszuloten, in der er als Mensch nie Halt finden sollte. Nicht zufällig wählt Glauser dafür den Kriminalroman, der als literarisches Genre zu seiner Zeit mindestens genauso verpönt ist wie die Halbwelt, der sich der Bürgersohn Glauser so nah fühlte.

Krimis hätten nur der Anfang sein sollen. „Das Wichtige erscheint erst später.“ Dieses Versprechen kann Glauser nicht mehr halten. Am Abend vor der geplanten Hochzeit mit seiner ehemaligen Pflegerin fällt er ins Koma und stirbt zwei Tage später. Es ist der klugen Zurückhaltung von Frank Göhre zu verdanken, dem es nie um Umdeutung von Misere zu Genialität geht, dass man am Ende nicht sicher sein kann, ob nicht selbst diese letzte Katastrophe im Leben eines Morphinisten gewollt ist.

WIEBKE POROMBKA

Frank Göhre: „MO. Der Lebensroman des Friedrich Glauser“. Pendragon Verlag, Bielefeld 2008, 236 Seiten, 19,90 Euro