Wenn Wurst zur Heimat wird

Der Klassiker: die Weißwurscht zum Frühstück in Bayern (noch vor zwölf Uhr Mittag). Gerne wird sie von den „Norddeutschen“ fälschlicherweise mit Messer, Gabel und Pelle gegessen. Zu Hause „zuzelt“ man die Weißwurscht und tunkt sie in süßen Senf.

Granat im Westen der deutschen Nordseeküste: insektenartige Nordseegarnelen °°frisch vom Kutter“, die vor dem Verzehr gemeinsam „gepult“ werden. Labskaus: ursprünglich ein Gericht für Seefahrer und Matrosen. Ein Gemisch aus Kartoffeln, Corned Beef, Matjes und Roter Bete. Gewöhnungsbedürftige Optik, aber sehr beliebt in Norddeutschland.

Die Freiberger Eierschecke, eine sächsische Kuchenspezialität ohne Quark: In ihrer Entstehungslegende heißt es, dass der Quark, der zum Backen vorgesehen war, zum Bau der Freiberger Stadtmauer eingesetzt werden musste. MAB

Rindersalami, hausgemachte Bratwurst, triefende Schweinehälften: familiäre Schlachthof- geschichten vom „Wurst-Freund“ und dem fleischelnden Parfüm der Großmutter

VON ANNE HAEMING

Wenn mich meine Großmutter in den Arm nahm, roch sie immer nach Schlachthof. Als würde man seine Nase nicht zwischen Halsbeuge und dunkelblauem V-Pulli vergraben, sondern auf die schwarz geräucherte Schwarte eines ganzen Schinkens pressen. Sie roch auch nach den Lyoner-Brötchen, die sie zu Mittag aß, nach den Geldmünzen und Scheinen, die durch ihre Hände gingen, und nach der klammen Kühlraumkälte, in der sie den ganzen Tag saß –Fleisch war ihr Parfüm. Meine Großmutter war von früh bis spät umgeben von Salamistangen, Teewurstketten und Schwarzwälder Schinken, die, an rauchschwarzen Stäben aufgefädelt, an den Wänden hingen, von Kühltheken mit Steaks, Sülze, blutigen Knochen und eingeschweißten Ochsenzungen, bei denen man durch die Folie die rauen Poren begutachten konnte.

Das ganze Fleisch und die Wurst, das war so etwas wie die Heimat meiner Großeltern, es war die einzige Konstante in ihrem Leben. Bevor sie in den Sechzigerjahren ihren Großhandel auf dem Karlsruher Schlachthof aufzogen, waren es die Metzgerei und das Gasthaus in Reichenbach im sächsischen Vogtland, seit Generationen in Familienhand. Zuerst die Flucht aus Ostpreußen, nach dem Krieg die Flucht aus der DDR. Über Berlin, ein Jahr Auffanglager. Irgendwie landeten sie im Badischen. Meine Großmutter begann in einer Karlsruher Metzgerei, mein Großvater tingelte als Handelsvertreter für Kühltheken durch die Metzgereien des Landes. Sie fingen noch einmal von vorne an, sie ackerten, sie hatten ein Ziel. Ein eigenes Geschäft sollte es sein. Mit Fleisch kannten sie sich schließlich aus. Für eine gemeinsame Wohnung reichte es noch nicht. Meine Mutter war damals sechs, meine Großeltern hatten keine Zeit, sich auch noch um ein Kind zu kümmern, sie schickten es zu einer Tante in den Westerwald.

Das Firmenlogo bestand aus zwei Würsten, Wurstzipfel an Wurstzipfel, wie gekocht zum Kreis gebogen. In den Würsten stand der Name, zweisilbig: „Wurst-Freund“, das verhieß eine bodenständige Liebe zum Produkt. Freund, der Nachname meiner Großeltern, wurde zum Versprechen.

Bei Wurst-Freund trugen alle knielange, gestärkte Kittel in Weiß, Grau oder Hellblau, mit dem Logo auf der Brusttasche. Die Aufgaben waren klar verteilt. Die Frauen nahmen die Bestellungen auf, planten die Fahrten, machten die Buchhaltung. Die Männer schulterten die Kartons mit Ware und fuhren sie zu den Kunden. Wer den ganzen Tag mit Wurst und Fleisch hantiert, hält sich nicht mit Förmlichkeiten auf. Man sagte „du“, und „Peter“, „Rainer“ oder „Sepp“. So hießen die Männer bei Wurst-Freund. Der eine ein schweigsamer Schnurrbartträger, der andere ein jungscher Aufschneider, der dritte gemütlich und dick. Die Frauen waren vor allem resolut. Sie saßen im Verkaufshäuschen aus Holz, das wie eine Kajüte am Ende des Verkaufsraums mit den aufgehängten Würsten stand. Die bulligen Metzger rissen Witze mit dem Peter, dem Rainer und dem Sepp, sie klopften sich mit ihren Fleischerpranken gegenseitig auf die Schultern. Sobald sie an die Theke traten und ihren Geldbeutel zückten, rissen sie sich zusammen. Da saßen die Nadja, meine Tante, die jüngste der drei Töchter, die Claudia, eine Nachbarin, die halbtags aushalf, und die „Chefin“, meine Großmutter – „Frau Freund“ sagte kaum einer zu ihr. Sie verzog selten eine Miene, ihr dürrer Oberlippenbart bewegte sich kaum, ihre schmalen Lippen meist ein Strich. Die Kasse zu ihrer linken Hand war ihr Revier. Die Damen rechneten mit elektrischen Rechenmaschinen, die Bestellungen notierten sie mit Blaupausen auf quadratischen Blöcken. Es gab immer Kaffee. Und Kräuterbonbons, ein brauner Klumpen in einer gelben Pappdose. Im Winter stand hinter den Bürostühlen eine kleine Elektroheizung. Die Damen sollten nicht frieren. Der Meisterbrief meines Großvaters hing auch hier hinten. Er selbst ließ sich selten blicken, meistens saß er in der Schlachthofkneipe.

Es war schon Jahrzehnte her, dass er das letzte Mal Ware ausgefahren hatte. Sobald meine Mutter ihren Führerschein hatte, Ende der Sechzigerjahre, war klar, dass sie sich hinter das Steuer des Firmen-Bullis zu klemmen hatte. Sie kurvte durch den Schwarzwald und die Dörfer Baden-Württembergs und karrte tonnenweise Salamis, Steaks und Wurst zu den Kunden. Wenn sie davon erzählte, dann voll Wut, gemischt mit trotzigem Stolz. Als älteste von drei Töchtern hätte sie eine Familientradition fortführen können. Sie wurde Lehrerin.

Der Karlsruher Schlachthof sieht aus wie eine Festung. Er steht da seit 1885, damals noch vor der Stadt, im Osten. Früher waren die Bauten wohl rot. Der feine Sandstein der riesigen klassizistischen Anlage, das pavillonartige Pförtnerhäuschen: sie sollten Noblesse vortäuschen, wo hinter den Mauern bluttriefend und schwitzend gearbeitet wurde. Als ich auf dem Gelände meine Nachmittage verbrachte und später während der Schulferien jobbte, war alles längst grau und schwarz, die Abgase der Lkws hatten Schicht um Schicht Schmutzstriemen hinterlassen. Stets parkten riesige Anhänger auf dem Hof, Männer in Gummistiefeln, in wadenlange, knochenweiße Gummischürzen gewickelt, spritzten den Boden sauber. Sie standen breitbeinig da. Der Wasserstrahl zuckte in minimalen Wellenbewegungen, unendlich lässig war das, Fleischreste und Blut strömten in die Gullys.

Das Blut, der Dreck auf den Gassen, Spuren der täglichen Schlachtarbeit. Den ganzen Tag standen die Schlachter in einer der offenen Hallen, inmitten von Schweinehälften. Eine kraftvolle, schweigsame Arbeit. In einer Hand meist ein großes Messer mit einer langen, sehr dünnen Klinge, die andere steckte in einem Kettenhandschuh. Sie teilten die Tiere, hackten Überflüssiges ab, säbelten gröbere Fettstücke weg, jeder hatte seine Aufgabe. Es war ein schweigender Reigen, ein mechanisches Ballett in Weiß-Rot. Der, der am Ende der Reihe stand, packte das gesäuberte Schwein oder Rind am Fuß, holte aus. Mit Schwung rasselte es an der Schiene entlang zu den anderen, die schon fertig waren. Das Aufeinanderprallen brachte die ganze Riege ins Baumeln. Sie bluteten langsam aus, tropften an den Fleischerhaken noch eine Weile vor sich hin.

„Billy, die lachende Wurst“ klebte als aufschnittrunder Aufkleber bis zum Schluss bei meinen Großeltern direkt neben der Eingangstür. Wenn sich die Wurstfirmen etwas Neues ausgedacht hatten, landete es bei uns im Kühlschrank. Ich hatte früh gelernt, dass eine hauchdünne Scheibe Salami anders schmeckt als ein fingerdickes Stück von derselben Wurst. Wir führten ein Leben im Wurstüberfluss. Schweinefilet, Rindersteak, Lyoner, Kochschinken, Putenbrust, Teewurst, grobe Leberwurst, die feine Rindersalami und Schwarzwälder Schinken, ich kannte es nicht anders.

Besonders kostbar, weil selten, waren zwei Sorten: die sogenannten Polnischen, eine Art Knackwurst mit Kümmel, und Thüringer Rostbratwürste. Mein Großvater machte sie bis zum Schluss selbst. Es waren „seine“ Würste. Er hatte sie schon im Vogtland immer gemacht, auch deshalb waren sie immer umgeben von einer Aura des Besonderen. Sie standen mehr als alles andere für seine Heimat in Sachsen, für die Vergangenheit. Sie waren ihm wichtig. Mein Großvater bestand auf bestimmtem Birkenholz für den Räucherprozess, er suchte die Bäume jedes Mal eigenhändig aus. Der Rauchfang, in dem die aufgefädelten Würste tagelang hängen mussten, war tief im Labyrinth des alten Schlachthofgemäuers versteckt, dunkel vor Ruß, es roch nur nach Räucherei, anderes hatte hier keine Chance. Jener würzige Rauch war die Basisnote, in die auch meine Großmutter eingehüllt war. Sie hütet die handgeschriebenen Rezepte mit der Schnörkelschrift meines Großvaters wie Kronjuwelen. Eine Packung der rohen Rostbratwürste lag immer in unserem Gefrierfach. Den letzten Vorrat haben wir vor gut zehn Jahren verbraten. Mein Vater behauptet noch immer, bessere Bratwürste habe er bis heute nirgends gegessen.

Die meisten Betriebe auf dem Schlachthof haben heute geschlossen, meine Großeltern sind vor fast zehn Jahren in Rente gegangen, da waren sie Mitte siebzig. Jetzt gibt es hier Kultur, eine Kneipe hat aufgemacht. Die große Bahnhofsuhr an der Schlachthofmauer zeigt ständig zwanzig vor drei.

Bis ich zu Hause auszog, war ich nie in einer normalen Metzgerei gewesen. Vielleicht sollte ich selbst eine aufmachen, denke ich manchmal. Wenn ich mal wieder vor dem Supermarktfleisch zurückschrecke, da in der Kühltheke. Es ist fertig portioniert, abgepackt, eingeschweißt. Und auf Styropor gebettet.

ANNE HAEMING, Jahrgang 1978, mag ihr Rumpsteak am liebsten blutig