Die Vorleserin

Von fast hypnotischer Wirkung: Mit leicht klirrender Stimme lockt Blanche Kommerell ihre Zuhörer in die Welt von Außenseitern und Romantikern

VON ESTHER SLEVOGT

Wenn sie liest, sieht man sie kaum. Die Schauspielerin Blanche Kommerell ist schwarz gekleidet und verschwindet fast vor dem schwarzen Hintergrund ihrer Lesebühne. Auf Sichtbarkeit kommt es ihr schließlich auch nicht an, denn sie möchte, dass man hört. Zuhört. Und so breitet sich ihre leicht klirrende, mit sanft-melancholischen Untertönen grundierte, immer scharf artikulierende Stimme bald im ganzen Raum aus, mit fast hypnotischer Wirkung. In den Köpfen ihrer Zuhörer bilden sich bald eigene Bilder zu den Dichterinnen, Schriftstellern oder Dramatikern, denen Blanche Kommerell ihre literarischen Porträts gewidmet hat.

Aber es ist nicht allein diese Stimme, sondern auch eine höchst eigene Exzentrik, die ihren Lesungen stets etwas Besonderes gibt. Deren Witz vielleicht ist, dass es eben nicht wirklich ihre eigene, sondern eine geborgte Exzentrik ist. Geborgt von den großen Dichterinnen der 20er-Jahre, die Blanche Kommerell besonders gerne liest, Mascha Kaléko oder Else Lasker-Schüler zum Beispiel. Eine rote Kappe auf dem langen, mit silbernen Fäden durchzogenen Haar, der lange Mantel, der alte Koffer, in dem Blanche Kommerell stets ihr Material transportiert, ein Stuhl, ein Tisch mit einem Glas Wasser darauf: Das ist das ganze Szenenbild. Und Bücher, Papierstapel. Das ganze trockene Lesefutter eben, über das Blanche Kommerell dann ihre Seele gießt.

Becketts Putzfrau

Meist sind es Außenseiter, die mit den Verläufen ihrer Zeit in Konflikt gerieten oder daran zugrunde gingen, Autorinnen wie Annette von Droste-Hülshoff. Oder die Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach, die Blanche Kommerell schon vor zehn Jahren bekannt zu machen versuchte: Als noch niemand von der weit gereisten exzentrischen Industriellentochter und Erika-Mann-Geliebten sprach, die nun zu ihrem hundertsten Geburtstag allenthalben wieder entdeckt wird. „Ehe man ihre Bücher liest, inhaliert man ihre Fotos“, beginnt Blanche Kommerell ihre Schwarzenbach-Lesung im Berliner Literaturhaus und hält ein Schwarzenbach-Porträt der Fotografin Marianne Breslauer hoch, das die zarte Androgynität dieser Schriftstellerin feiert. Am Ende hat man ein höchst komplexes Bild von dieser Frau und ihrem kurzen, intensiven Leben.

Doch es sind nicht nur die berühmten und weniger berühmten unangepassten Frauen und Vorreiterinnen der Emanzipation im 19. und 20. Jahrhunderts, an deren Spuren Blanche Kommerell sich (und ihr Publikum) heftet. Auch Männern wie Samuel Beckett verwandelt sie sich mühelos an. Ihm glaubt man fast physisch nahe gekommen zu sein, so geschickt sind die Texte komponiert, Literarisches und Autobiografisches ineinander verschränkt. Selbst die Putzfrau, die in den 60er-Jahren Becketts Apartment in der Berliner Akademie der Künste sauber hielt, wo er zeitweilig lebte, kommt zu Wort.

Dabei hat alles einmal aus der Not heraus begonnen. Schon mit zwölf Jahren war Blanche Kommerell in der DDR ein Kinderstar: In Götz Friedrichs berühmter Rotkäppchen-Verfilmung von 1962 spielt sie die Titelrolle und von da an immer wieder in Defa-Märchenfilmen mit. Mit vierundzwanzig hat sie an der Seite von Henry Hübchen eine große Rolle in Frank Beyers Jurek-Becker-Verfilmung „Jakob, der Lügner“, dem einzigen DDR-Film, der je für den Oscar nominiert wurde. Alle Zeichen stehen eigentlich auf Karriere. Doch in den Ostberliner Künstlerkreisen, in denen sie sich bewegt, verkehrt auch Wolf Biermann. Und in der kulturellen Eiszeit, die mit seiner Ausbürgerung 1976 anbricht, wird Blanche Kommerell plötzlich nicht mehr beschäftigt. Sie hat zwei kleine Kinder und hält sich von da an mit Lesungen und literarischen Matineen über Wasser.

Ein kleiner Widerstand

Es beginnt in den DDR-Künstlerexklaven von Ahrenshoop, wo sie Mozart-Briefe liest. Bald perfektioniert sie ihre Lesungen, ergänzt sie atmosphärisch mit kleinen Musikeinlagen. Das Schlüpfen in die Künstlerrollen ist immer auch Identifikationsangebot, ein kleiner, widerständiger Akt gegen die offizielle Kunstpolitik. Als 1984 das ehemalige Schauspielhaus am Gendarmenmarkt als Konzerthaus wiedereröffnet wird, ist Blanche Kommerell mit ihren Lesungen so bekannt, dass sie auch dort Veranstaltungen machen kann. Es beginnt mit einem Porträt von Rahel Varnhagen, die ihr Leben in unmittelbarer Nachbarschaft des Gendarmenmarkts verbrachte. „Die Mauern sollen fallen!“, zitiert Blanche Kommerell aus einem Varnhagen-Brief. Gemeint sind die Mauern der Ungleichheit zwischen Juden und Nichtjuden, Frauen und Männern. Seitdem habe die Stasi mit im Saal gesessen, erzählt Kommerell heute.

Das subversive Potenzial der Romantiker ist enorm: Eine Künstlergeneration entdeckt in der finstersten Phase der preußischen Restauration die Literatur als Fluchtpunkt vor den politischen Verhältnissen. Und das subversive Potenzial, das Widerständlerische und Unangepasste, ist es bis heute geblieben, das Blanche Kommerell an den Autoren, die sie liest, am meisten interessiert. Über ein Jahr, sagt Blanche Kommerell, dauert es, bis sie sich so eine Lesung erarbeitet hat. „Nicht entdecken, ersuchen“ nennt sie selber diesen Prozess.

Mit ihren Literaturprogrammen reist die Vorleserin durch Deutschland und die Schweiz, liest in Berlin, Sils-Maria im Engadin oder Witten-Herdecke, wo sie außerdem an der anthroposophischen Universität Theater und Sprecherziehung unterrichtet. Da verhilft sie beispielsweise zukünftigen Ärzten im Rahmen ihres Medizinstudiums dazu, anatomisches und physiologisches Fachwissen auf dem Weg des Theaterspielens in körperliche Erfahrung zu überführen – ein ungewöhnlicher Beitrag zur Entwicklung der Empathiefähigkeit der jungen Mediziner: angewandte Theaterarbeit einer ganz anderen Art.

Für ihre Arbeiten im Bauch der Deutschen Sprache und ihrer Literatur hat die Henning-Kaufmann-Stiftung Blanche Kommerell nun den Deutschen Sprachpreis verliehen, mit dem die Stiftung jährlich Menschen oder Institutionen würdigt, die sich in besonderem Maße um Erhalt und Entwicklung der Sprache verdient gemacht haben. Die Preisverleihung findet im Herbst in Weimar statt, und der Preis hat so prominente Träge wie Karl Heinz Bohrer, Peter von Matt oder den legendären Joyce-Übersetzer Hans Wollschläger. Nur ein Schauspieler hat diesen Preis jemals erhalten, der seit 1984 verliehen wird: Will Quadflieg, dessen berühmteste Rolle der Faust an der Seite von Mephisto Gustaf Gründgens war. Blanche Kommerell wird nun die erste Schauspielerin sein.

Blanche Kommerell liest am 19. Juli, 20 Uhr, im Literaturhaus Fasanen- str. 23, aus Tagebüchern und Briefen von Brigitte Reimann