Dieser Film hat viele Augen

Jeder ist das Gespenst des anderen: Selbst wenn die Geschichten das Klischee streifen, spürt man die Liebe zu den Menschen in Cédric Klapischs Ensemblefilm „So ist Paris“. Und französische Schauspieler können großartig einfache Menschen spielen

VON JOCHEN SCHMIDT

Das Zusammenleben von Millionen Menschen in einer Stadt ist eigentlich ein erstaunlicher Zustand. Wie kann man es gewohnt sein, täglich so vielen Fremden zu begegnen, ohne mehr über sie zu erfahren oder auch nur zu wissen, was sie im nächsten Moment tun werden? Wohin geht die Postkarte, die der Mann dort einwirft? Warum rennt die Frau plötzlich los? Jeder ist das Gespenst des anderen. Wie selten überschreitet man die Schwelle seinem Nächsten gegenüber. Eher wechselt man den Kontinent. Man könnte sich für jeden interessieren, man müsste sich nur in sein Leben und seine Perspektive weiterklicken können. Dem Zufall eine Chance geben ist eigentlich unsinnig, denn in der Stadt ist jeder Moment Zufall. Aber wie erzählt man diesen chaotischen Zustand?

Einer, der das moderne Phänomen der Masse sehr früh beschrieben und durch genaues Beobachten das Potenzial an Geschichten entdeckt hat, war der gehbehinderte Vetter in E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Des Vetters Eckfenster“. Damals war der Berliner Gendarmenmarkt die Bühne, die Zeit ist wohl vorbei. In Cédric Klapischs Film „So ist Paris“ kann ein herzkranker Tänzer seine Wohnung nicht mehr verlassen und beobachtet die Passanten. Filme können einer Figur dorthin folgen, wo der Beobachter keinen Zugang hätte. Und der Episodenfilm hat viele Augen, Charaktere können parallel erzählt werden. Auch in „So ist Paris“ begegnen sich die Protagonisten wie Unbekannte in der Stadt, obwohl ihre Geschichten miteinander zu tun haben, ohne dass sie es immer wissen.

Als Autorenfilmer wählt Klapisch jede Einstellung bewusst, und selbst wenn die Geschichten das Klischee streifen, spürt man die Liebe für die Menschen. Und die Schauspieler scheinen sich bei ihm wohl zu fühlen. Französische Schauspieler haben ja ihren deutschen Kollegen voraus, „einfache Menschen“ spielen zu können, ohne peinlich zu wirken. Dann darf der Fischhändler herzensgut sein, der Professor sich in die Studentin verlieben und die Sachbearbeiterin vom Sozialamt ein verkorkstes Privatleben haben, man stört sich nicht daran. Der Mann aus Kamerun fragt sich vor dem illegalen Grenzübertritt, ob sich der Aufwand lohnt, na ja… Die Genauigkeit im Tonfall schafft die Wahrheit. Schon die haarsträubende Schizophrenie, mit der eine Boulangère zwischen Gängelung ihrer Angestellten und Verkaufsgegirre wechselt, enthält die Unmenschlichkeit der Dienstleistungsgesellschaft.

Wie in „Un air de famille“, einem Film Klapischs aus dem Jahr 1996, gibt es ein ungleiches und doch sehr verwandtes Brüderpaar, einen Historiker, auf Pariser Stadtgeschichte spezialisiert, und einen Architekten, der Paris umbaut. Die Haussmannisierung der Stadt zu Baudelaires Zeit, die das Paris geschaffen hat, das die Welt heute liebt, aber vom Dichter damals bitter beklagt wurde, in jeder Zeit hat sie ihr Pendant. Genauso wenig wie eine Stadt darf ein Leben stagnieren. Dafür sorgen schon Krankheit, Unfälle und Tod.

„Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer das Gleiche: der Tod“, schreibt Benjamin. Todesfälle sind wie Bomben, die möglichst weit von der eigenen Familie einschlagen sollen. Aber schon das serielle Kunstwerk der Passbildsammlung, die jeder von sich besitzt, enthält das ganze Grauen. Ein junger Mann, der für eine Weile die Welt mit den Augen eines Todgeweihten sieht und ihre Poesie erkennt, während seine Mitmenschen ständig schlechte Laune haben, ist nicht spektakulär als Filmidee. Solche spirituellen Einsichten, die jeder aus Krisenzeiten kennt, lassen sich ja leider selten in den Alltag hinüberretten. Es sind eben nicht alle Gesunden glücklich, und sie sind auch nicht dazu verpflichtet. Man verzeiht es dem Film aber gern. Auch wenn er nicht die treffend bösen Dialoge von „Un air de famille“ hat, wenn der ungebrochenen Jugendlichkeit von „L'auberge espagnole“ ausgerechnet durch die Präsenz des Todes mehr Tiefe gegeben werden soll und das ganze Projekt eine etwas offensichtliche Hommage an Paris sein will.

Aber die Stadt, in der man heute ein Baguette „Tradition“ kaufen kann, ist wohl wirklich mehr als ihr eigenes Klischee. Und Romain Duris ist der Großschauspieler seiner Generation, ein Mann, der auch als Variététänzer nicht tuntenhaft wirkt, der ernst sein kann, aber auch trottlig-komisch. Und wer hätte gedacht, dass man sich nach so vielen Jahren ein zweites Mal in Juliette Binoche verlieben kann?

„So ist Paris“. Regie: Cédric Klapisch. Mit: Romain Duris, Juliette Binoche u. a., Frankreich 2008, 130 Min.