Kinder werden allein gelassen

Zwei bis drei Millionen Kinder in Deutschland befinden sich in derselben Situation wie die beiden Mädchen in Bremen, die vergangene Woche von ihrer psychisch kranken Mutter getrennt wurden. Für sie fehlen Hilfsangebote, sagen Fachleute

Die zwei verwahrlosten Mädchen, die mit ihrer psychisch kranken Mutter in einer Wohnung in Bremen lebten, waren dem Jugendamt und der Polizei bekannt. Im Juni 2004 gab es erstmals Kontakt zu der Familie, teilte die Sozialbehörde mit. Anlass war eine Polizeimeldung über eine Kindeswohlgefährdung. Im Sommer 2007 versuchte das Jugendamt, den Eltern das Sorgerecht zu entziehen, scheiterte jedoch vor dem Familiengericht. Die Mädchen wurden jetzt entdeckt, weil Polizisten das ältere der beiden auf der Straße aufgefallen war. EIB

von Eiken Bruhn

Die beiden Mädchen in Bremen, die Ende vergangener Woche für Schlagzeilen sorgten, weil ihre psychisch kranke Mutter mit der Betreuung der Kinder überfordert war, sind kein Einzelfall. Zwei bis drei Millionen Kinder leben nach Schätzungen in Deutschland in Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt ist. Doch deren Betreuung lässt zu wünschen übrig, sagen Fachleute.

So auch die Psychoanalytikerin und Diplompsychologin Silke Wiegand-Grefe, die am Hamburger Universitäts-Klinikum Eppendorf ein Forschungsprojekt zu dem Thema leitet. Zwar habe sich in den letzten fünf Jahren viel getan, aber in der Regel stehe immer noch der erkrankte Patient im Zentrum der Behandlung – und nicht die Familie, die es in vielen Fällen auch noch gebe, sagt Wiegand-Grefe. In ihrem Forschungsprojekt kommen an insgesamt sechs Terminen alle Familienmitglieder in die Beratung, erst die Eltern, dann die Kinder. Geklärt werde dabei, wie die Kinder über die Krankheit aufgeklärt werden können, und was sie brauchen, um damit fertig zu werden. Das sei Präventionsarbeit, sagt Wiegand-Grefe, denn die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder selbst einmal krank werden sei wegen der genetischen Disposition und der enormen Belastung um ein Vielfaches höher. Beispielsweise müssen sich die Kinder schon in jungen Jahren um das erkrankte Elternteil kümmern – und manchmal auch noch um dessen Partner und jüngere Geschwister, selbst aber niemand haben, der sich um sie sorgt.

Eine solche Kindheit beschreibt auch die heute 39-jährige Silke Möller*, die sich in Göttingen einer Selbsthilfegruppe angeschlossen hat. Die anderen fünf Mitglieder zwischen 20 und 40 Jahren wissen, was es heißt, wenn „die Mutter verrückt“ oder „der Vater komisch ist“, wie Möller es beschreibt. Was ihre Mutter, die sich umbrachte, als sie 13 war, genau hatte, weiß sie nicht, sie vermutet manisch-depressive und paranoide Züge, weil sie sich manchmal von der Nachbarin verfolgt fühlte. Geredet wurde in der Familie nicht darüber, „Mama ist auf Kur“ hieß es, wenn sie in der Psychiatrie weilte. Zwischendurch sei es der Mutter immer gut gegangen, erinnert sich Möller, weswegen sie auch nicht glaubt, dass es besser für sie gewesen wäre, wenn man sie ihr und dem gesunden Vater – „der Fels in der Brandung“ – weggenommen hätte. „Das wäre nur eine weitere Traumatisierung gewesen“. Wichtig wäre aber jemand gewesen, der sich um sie kümmert, mit ihr über die Schuldgefühle spricht. „Wenn sie so abgrundtief traurig war, dann habe ich überlegt, ob ich schuld bin, weil ich eine schlechte Mathearbeit geschrieben habe“, erzählt Möller.

30 Jahre ist das jetzt her, doch noch immer gibt es die Tabus, über psychische Krankheiten zu sprechen. Wenn es nach ihr ginge, sagt die Hamburger Psychologin Wiegand-Grefe, dann würde jeder und jede, die in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen wird oder ambulant behandelt wird, routinemäßig nach Kindern gefragt und auf Hilfsangebote aufmerksam gemacht.

Vorausgesetzt, es gibt diese überhaupt, denn Hamburg hat nach Einschätzung von Wiegand-Grefe auch unter den deutschen Großstädten eine „Vorreiterrolle“. Selbst in Bremen, einer Stadt, in der die Bedürfnisse von Psychiatrie-Erfahrenen stets Gehör fanden, konzentrieren sich die Angebote auf Erwachsene. Fragt man bei der Sozialsenatorin nach, was es für Kinder gibt, dann wird auf die Patenschaften verwiesen, wo sich Erwachsene als Ansprechpartner in der Not zur Verfügung stellen, auch mal die Kinder aufnehmen, wenn es nicht mehr anders geht.

Mehr als ein ergänzendes Angebot könne das aber nicht sein, sagt die Psychologin Maike Struve, die beim Hamburger Verein „Seelennot“ als Beraterin arbeitet. „Das sind keine Fachleute.“ Gegründet hat den Verein eine ehemaligen Ärztin am Universitätsklinikum Eppendorf. Seit acht Jahren berät dieser Menschen und ihre Angehörigen zu der Frage, wie Kinder mit ihren psychisch kranken Eltern leben können und organisiert Selbsthilfegruppen für Kinder und Jugendliche. Möglich ist diese Arbeit nur durch Spenden, das Bemühen um eine öffentliche Förderung scheiterte.

Ein Irrtum sei übrigens, dass es den Kindern gut gehe, wenn sie sich unauffällig verhalten, gut in der Schule sind, sagen alle drei Frauen. Das sei typisch für diese Kinder, sagt Wiegand-Grefe, „sie brauchen aber jemand, der ihre Anstrenung sieht, die Ordnung aufrecht zu erhalten“. Das Bremer Jugendamt hatte die Lage der Mädchen für halb so wild erklärt, weil diese sich in Schule und Kindergarten normal verhalten hatten.

*Name geändert