Der Moderne verpflichtet

In den 1920er Jahren standen die Bauten Gustav Oelsners für die vorbildliche Umsetzung sozialreformerischer Ideen: Architektur, die das Soziale und die Bildung in den Mittelpunkt stellt. Heute harrt das Schaffen des einstigen Bausenators der Stadt Altona einer Wiederentdeckung

VON MAXIMILIAN PROBST

Moderne Architektur macht heute am meisten von sich reden, wenn es ihr gelingt, ein brand zu finden, eine wiedererkennbare Form. Ihr Wert, ja ihre Wahrheit bemisst sich daran, ob sie zum Wahrzeichen taugt. Sie steht damit im denkbar größten Gegensatz zum altehrwürdigen „Neuen Bauen“ der Weimarer Republik und seinem Grundsatz, die Erde „in eine gute Wohnung zu verwandeln“, wie es der Architekt Bruno Taut ausdrückte – also hellen, geräumigen, gesunden Wohnraum für alle zu schaffen, nicht nur für einige wenige. Jüngst erfuhr dieses Bemühen nachträglich eine Würdigung: Fünf exemplarische Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus in Berlin wurden zum Weltkulturerbe erklärt.

Zeitgleich mit der Unesco-Entscheidung ist eine Monographie über den Altonaer Bausenator Gustav Oelsner (1879–1956) erschienen. „Licht, Luft und Farbe für Altona an der Elbe“ bietet einen guten Überblick über das Schaffen dieses Architekten, der seinen Berliner Kollegen in nichts nachstand – dessen Wohnblöcke heute aber noch nicht einmal unter Denkmalschutz stehen. So wurde noch vergangenes Jahr das Hauptgebäude eines seiner großen Klinkerblöcke ohne Not abgerissen.

Die allgemeine Unkenntnis über Gustav Oelsner ist groß. Umso größer ist deshalb das Verdienst des von Peter Michelis, Professor für Architektur an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, herausgegebenen Buchs, dem sich auch gleich die Gründe entnehmen lassen, weshalb sich Oelsner zum großen Unbekannten seiner Zunft entwickelte: So hatte Oelsner trotz mehrerer Anfragen von renommierten Verlagen auf eine Werkmonographie verzichtet, die sein Schaffen einem breiteren Publikum hätte zugänglich machen können. Ebenso wenig wie er für den einzelnen Mensch, für den aus der Masse Herausragenden baute, wollte er offenbar selbst herausragen.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten endet dann abrupt seine Laufbahn als Architekt. Unter fadenscheinigen Gründen wurde er entlassen und seine radikal der Moderne verpflichteten Bauten fielen dem Verdikt des „Kulturbolschewismus“ zum Opfer. So wurden etwa viele ursprünglich mit Flachdächern versehenen Gebäuderiegel Oelsners im „Dritten Reich“ mit Walmdächern im Heimatstil aufgestockt und damit „arisiert“. Andere wurden im Krieg beschädigt und danach abgerissen oder nur minderwertig wieder aufgebaut. Und heute sind es Energiesparmaßnahmen wie Isolierglas-Fenster oder Thermohäute, die Oelsners Klinkerbauten verhüllen und damit in ihrer Ästhetik kaum noch erfahrbar werden lassen. Das alles hat die Rezeption erheblich erschwert.

In den 1920er Jahren standen Oelsners Bauten dagegen weithin in Ansehen: Sie galten als vorblidlich für die Umsetzung moderner, sozialreformerischer Ideen. Bruno Taut, neben Walter Gropius einflussreichster Fürsprecher des Neuen Bauens, stellte Oelsners Entwürfe in seinen Publikationen vor. Dessen 1927 realisiertes Arbeitsamt an der Altonaer Kieler Straße wurde von der Reichsregierung gar zum „Musterbau“ für künftige Neubauten der Weimarer Republik erklärt.

Wie die Werkmonographie jetzt deutlich macht, hat Oelsner dem „Neuen Bauen“ eine neue Dimension erschlossen: Er übernahm dessen Form-Direktiven der Schlichtheit und Strenge, des Rasters und des Kubus, übersetzte sie aber in Klinker. Mit deren oft schroffen und schrundigen Oberflächen und lebhafter Farbigkeit erreichte er in seinen Bauten eine ganz eigene Synthese aus Farbe und Form, Handwerk und maschineller Konstruktion.

Die Form selbst aber folgte der Funktion. Und die sah vor, möglichst vielen Menschen erschwinglichen, hellen und praktischen Wohnraum zu verschaffen – dem Glauben angemessen, die Bedürfnisse des Menschen auf ein kleines, vernünftiges Maß reduzieren zu können. Als beispielhaft für Oelsners Architektur, die das Soziale und die Bildung in den Mittelpunkt stellte, können dabei die Wohnblöcke in der Koldingstraße gelten: Die Gebäude gruppierten sich um einen Montessori-Kindergarten mit Spielplatz. In sämtlichen Wohnungen erweiterte eine Loggia die rund 15 Quadratmeter große Wohnküche ins Freie.

Die nun vorgelegte Werkmonographie macht mit Skizzen, historischen Aufnahmen und Aufnahmen von heute Oelsners Bauten optisch erfahrbar, mit profunden Texten ihr Anliegen nachvollziehbar. Besonders erfreulich ist es, dass die Autoren Peter Michelis und Olaf Bey dabei auch ausführlich Oelsners städtebauliche Leistungen würdigen und im geschichtlichen Kontext verorten. Angeregt von der Gartenstadtbewegung verfolgte Oelsner – ähnlich wie sein Hamburger Kollege Fritz Schumacher – eine Aufklockerung, eine Lüftung der damals dunklen und engen Großstadt: Grüne Lungen sollten sich durch die Stadt ziehen, Arbeit und Wohnen getrennt, die Stadt ins Land erweitert und dabei deren Unterscheidung aufgehoben werden.

Oelsner hat dieses Programm auch erstaunlich weit vorantreiben können. Es gelang ihm, die großen Grundstücke des Hamburger Bürgertums aufzukaufen, als dieses durch die Inflation sein Privatvermögen einbüßte. Oelsner verhinderte damit deren Parzellierung und gestaltete die Flächen entlang der Elbe stattdessen zu öffentlichen Parks. Auch der Elbwanderweg geht auf sein Bemühen zurück. Im Stadtteil Bahrenfeld schuf er den Volkspark als waldreiches Naherholungsgebiet und Spiel-und Sportplatz. Entlang der Grüngürtel aber schuf er Stadtrandsiedlungen.

Oelsner hat mit seinem städtebaulichen Konzept und seiner Architektur der Auflockerung den Zeilenbau, Pavillionbau und Reihenhausbau der 50er und 60er Jahre stark beeinflusst. Heute sind die sozialutopischen Ideen hinter den Bauten allerdings nicht mehr zu erkennen. Entscheidend mitgewirkt hat dabei, dass die neuen Siedlungen nach dem Krieg nicht mit Straßen- und Vorstadtbahnen angebunden wurden, sondern über den entfesselten, individualistischen Autoverkehr. Die grünen Korridore wurden als Straßenschneisen realisiert.

Dieselbe Tragik, dasselbe Scheitern eines großen Gedanken kündigt sich aber auch in Oelsners Bauten selbst an: Mit ihrer rationalen kalkulierenden Strenge weisen sie unübersehbar voraus auf den Plattenbau der Nachkriegsjahre.

Peter Michelis (hg.): Der Architekt Guszav Oelsner. Licht, Luft und Farbe für Altona an der Elbe. Dölling und Galitz Verlag 2008, 264 S., 29,80 Euro