Gelbfieber im Großherzogtum

Ausgerechnet die Rennfahrer aus dem kleinen Luxemburg dominieren die Tour de France – allen voran der Gesamtführende Frank Schleck. Warum ist das kleine Land mit den großen Banken plötzlich ein Radsport-Gigant?

L’ALPE D’HUEZ taz ■ Radsport-Fans nennen die Alpe von Huez in Hochsavoyen gerne den Holländerberg. Es ist ein Insiderwitz, der auf die Tour-de-France-Historie anspielt – in den Siebziger-und Achtzigerjahren gewannen am von den meisten Mythen umwaberten Berg der Tour die nordwesteuropäischen Flachländer in Serie. Deshalb pilgern bis heute holländische Fans besonders gerne in das Tal der Oisans, um zur Tour-Zeit in ihren orangefarbenen Kostümen an den 21 Kehren der Pass-Straße zum Skigebiet von Huez hinauf eine mehrtägige Fete zu feiern.

In diesem Jahr haben sie jedoch Konkurrenz bekommen. Unter die orange-weiß-blauen Flaggen an den Campern am Straßenrand mischen sich auffallend viele blau-weiß gestreifte mit goldgekröntem roten Löwen im Signet. Die Luxemburger haben die Tour entdeckt und machen ihren Nachbarn hier die Berge streitig. Ausgelöst hat die Euphorie die erstaunliche Tatsache, dass gleich drei Fahrer aus dem 480.000-Einwohner-Herzogtum in diesem Jahr die Frankreichrunde mit bestimmen.

Angeführt wird die Luxemburger Radl-Delegation im Peloton vom 27 Jahre alten Frank Schleck, der seit drei Tagen im Gelben Trikot fährt und sich, sollte er auf der gestrigen schweren Bergetappe seine Führung verteidigt haben [nach Redaktionsschluss], Hoffnungen machen darf, als erster Luxemburger seit Charly Gaul vor genau 50 Jahren die Tour zu gewinnen. Begleitet wird der Sohn des neunfachen Tour-Starters Johnny Schleck von seinem fünf Jahre jüngeren Bruder und Mannschaftskollegen Andy, bislang bester Jungprofi der Tour. Und da ist noch Kim Kirchen, der in der ersten Tour-Woche Gelb trug und noch immer auf Rang sieben mit einem nicht allzu dramatischen Rückstand lauert.

Zuhause im Großherzogtum hat diese erstaunliche Luxemburger Erfolgswelle ein landesweites Gelbfieber ausgelöst. Für die Übertragung der beiden Alpenetappen am Dienstag und Mittwoch unterbrach das Parlament seine Sitzungen. Ministerpräsident Jean-Claude Juncker hat bereits mehrfach sowohl den Schlecks als auch Kim Kirchen telefonisch gratuliert. Die Abendnachrichten bestehen zu 80 Prozent aus Radsport, die Tageszeitung Le Quotidien hat ihren Sportteil von zwei auf acht Seiten aufgestockt – täglich.

Einen tieferen Grund dafür, dass Luxemburg als Radsportnation große Velo-Länder wie Italien und Frankreich überflügelt, gibt es freilich nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Familienangelegenheit. „Es ist ganz einfach“, sagt Johnny Schleck. „Kirchens Onkel Jean war zweimal Fünfter der Tour, sein Vater Emy hat zwei Etappen der Tour de l’Avenir gewonnen.“ Wie die Schlecks ist Kirchen mit der genetischen Disposition ausgestattet und mit elterlicher Ermutigung zum Radprofi sozialisiert worden. Ein besonderes Förder- und Ausleseprogramm unter den 2.500 luxemburgischen Lizenzfahrern gibt es nicht.

In glückseliger Luxemburger Radsporteuphorie geeint waren die deutlich sicht- und hörbaren weiß-blauen Fans an der Alpe d’Huez allerdings nicht. Die Anhängerschaft spaltet sich in die Freunde Schlecks und in die Bewunderer Kirchens. Angeheizt wurde die Spaltung schon in der ersten Tour-Woche, als die Schlecks mit ihrem Team CSC alles daransetzten, Kirchen aus seinem Gelben Trikot herauszufahren. Kirchen beschwerte sich damals bitterböse und gab zu: „Es ist kein Geheimnis, dass die Schlecks und ich uns nicht besonders nahe sind.“ Die Schlecks konterten trotzig: „Gibt es denn ein Gesetz, dass wir nicht an ihm vorbeifahren dürfen?“

Das gibt es nicht, und in den Alpen zogen die Schleck-Brüder ordentlich an ihrem Landsmann vorbei. Kirchen wird dies in den letzten Tour-Tagen im Flachland zusätzlich anstacheln. Und Luxemburg wird noch bis zum Sonntag sein kleines Sommermärchen feiern. SEBASTIAN MOLL