Chemiestunden sind gefährlich

Hochexplosive Stoffe schlummern in den Schulen: Die Funde von gefährlicher Pikrinsäure häufen sich. Experten sagen: Die Substanz ist unberechenbar und sollte im Chemieunterricht nicht mehr verwendet werden. Doch Lehrer mögen sie

Die ersten Funde haben sie aufgeschreckt. Trotz Ferien eilen viele Chemielehrer in die Schule zurück. Dort überprüfen sie die Chemikalienbestände auf einen Stoff, der getrocknet äußerst gefährlich sein kann. Überlagerte und damit schon kristallisierte Pikrinsäure wurde im Juli an elf Schulen entdeckt. „Offenbar wurde nicht regelmäßig auf die Stoffe draufgeschaut“, sagt der Sprecher der Senatsbildungsverwaltung, Kenneth Frisse.

Direkt nach dem ersten Fund am 11. Juli an der Herder-Oberschule in Westend seien alle Schulen aufgefordert worden, ihre Bestände zu überprüfen, so Frisse. Wegen der Ferien hätten die Schulen noch bis zum Unterrichtsbeginn am 1. September Zeit. Frisse nimmt die Schulen in die Pflicht: Eine regelmäßige Überprüfung der Stoffe sei ihre Aufgabe. Jeder Chemielehrer müsse von der Gefahr wissen, die von Pikrinsäure ausgehe. Bei jeder Bestellung sei zudem ein „Waschzettel“ dabei, der über die richtige Handhabung und Lagerung informiere.

Nach Angaben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind gerade viele Chemielehrer überlastet. Dies entbinde sie natürlich nicht von ihren Aufgaben, betont GEW-Sprecher Peter Sinram. Die Gefahrstoffverordnung schreibt eine jährliche Kontrolle der Stoffe vor. Nach Angaben des Sicherheitsbeauftragten für das Chemielabor der Freien Universität Berlin (FU), Thomas Lehmann, muss Pikrinsäure „wasserfeucht“ gelagert werden. „Dann ist die Substanz sehr friedlich“, erläutert er. Das ändere sich schlagartig, sobald das Wasser verdampft sei. Dies sei nach längerer Lagerung zu erwarten.

Das Landeskriminalamt (LKA) mahnt zur Vorsicht: Schon bei geringsten Zweifeln sollten Lehrer die Finger davon lassen und die Polizei rufen, die den Stoff entsorge. Allein das Öffnen eines Chemiebehälters mit Pikrinsäure könne lebensgefährlich sein, warnt LKA-Sprengstoffexperte Jürgen Thiele. „Wenn ein Gramm in der Hand explodiert, hat sich das mit den Fingern erledigt.“

Die geringste Reibung, etwa beim Öffnen des Schraubverschlusses der Behälter, könne zur Detonation führen, so Thiele. Der Stoff sei unberechenbar. Deshalb habe sich das Militär entschlossen, auf Pikrinsäure zu verzichten. Früher wurde sie als Explosivstoff zur Füllung von Granaten verwendet, später jedoch durch TNT ersetzt. Die Sprengkraft von Pikrinsäure sei aber weit höher, weiß Thiele. Er plädiert dafür, die Pikrinsäurebestände an den Schulen vollständig aufzulösen. Entsprechende Gespräche zwischen der Senatsbildungsverwaltung und der Polizei laufen bereits.

Für Pikrinsäure gibt es unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten: In der Industrie wird sie zum Beispiel als Ätz- und Färbemittel verwendet. Für den Chemieunterricht ist sie interessant, um eine reizvolle Reaktion zu erzeugen. Werde die Substanz etwa zu einem aminhaltigen Stoff hinzugegeben, erhalte man einen zitronengelben Niederschlag, erläutert Chemieprofessor Hans Reißig von der FU. „Das ist echt was fürs Auge.“ Zwar gebe es ungefährlichere Versuche, diese seien aber weniger farbenfroh.

TILL ERDTRACHT/DDP