Rilke unter schwarzer Flagge

Das Duo Claire Fontaine zeigt in der Galerie Neu ein überfülltes Koordinatensystem verrätselter sozialer und politischer Bezüge: Münzen, in die scharfe Sichelklingen eingelassen sind, oder Statussymbole eines Kleinkriminellen

In einer Gesellschaft, die zwischen radikalem Individualismus und ersehnter Anonymität in der Gruppe schwankt, sind Persönlichkeitsstörungen an der Tagesordnung. An diesem Kennzeichen des gegenwärtigen Lebens arbeitet sich Claire Fontaine ab. Sie nennt es freilich nicht Persönlichkeitsstörung, sondern freilich allgemeine Krise der Singularität. Ganz schön altklug für ein vierjähriges Mädchen.

Claire Fontaine wurde 2004 als Projektname für ein Künstlerkollektiv geboren, gegründet von Fulvia Carnevale und James Thornhill in Paris. Den Namen liehen sie sich von einem französischen Papierwarenhersteller, der alle Schulen beliefert und somit schon von der ersten Klasse an Allgemeingut ist. Die Eltern bezeichnen ihr Kind als „Ready Made Artist“ und schlüpfen in das Label Claire Fontaine wie in einen Avatar, der ihnen kritische Distanz zur eigenen Arbeit gewährt. Marcel Duchamp hatte den Begriff Readymade entwickelt, als er Pissoirs und Flaschentrockner als selbständige Kunstobjekte definierte. Andy Warhol befreite Subjekt und Objekt von tradierten Hierarchien und machte sie austauschbar in Serie. Die Appropriation Art hatte es schließlich auf die Kunst selbst abgesehen und erklärte sie zum Material.

Claire Fontaine – ein durchtriebener Bastard aus naiver Kindlichkeit, geballtem Theoriewissen und postmoderner Selbstbedienungsmentalität – treibt das Prinzip unendlicher Verfügbarkeit der Zeichen weiter. Sie arbeitet in diversen künstlerischen Genres und Gattungen: Skulptur und Installation, Neon und Textarbeit, Found Footage und Objektmodifikation. Readymade und Subversion bleiben die gemeinsamen Nenner der künstlerischen Einflussnahme. Als Neuzugang der Berliner Galerie Neu präsentiert Claire Fontaine dort seit kurzem eine erste Einzelausstellung.

Der Raum wird beherrscht von einer Flaggeninstallation aus sechs schwarzen Fahnen. Schon die äußerst simple Verknüpfung von rechteckigem Stoff und schwarzer Farbe ruft einen Kanon an historischen Assoziationen auf, die Claire Fontaine als erweitertes, intellektuelles Material herbeizitiert. Bevor die schwarze Fahne als Symbol des institutionalisierten Anarchismus eingesetzt wurde, warnte sie schon vor Pest oder Seeräubern, symbolisierte wechselweise Tod und Freiheit, diente ein paar Jahre Afghanistan als nationale Farbe und wurde von den Nazis als Flagge des Deutschen Reichs diskutiert.

Die Fahnen sind mit Antiqua-Lettern bestickt. Schwarz auf schwarz. Mit den kaum lesbaren Zitaten verlässt Claire Fontaine nun jedoch den Bereich allgemein verständlicher Assoziationsketten und verweist auf Maschinen, Androiden und den Philosophen Georges Simondon, dessen Individuationstheorie und das Problem begrifflicher Konkretisierungen. Und doch bewahrt die Arbeit Bodenhaftung – die Flaggenmasten sind Gartengeräte der in Schrebergärten präsenten Firma Gardena.

Claire Fontaines Arbeiten sind gleichzeitig konkret und ambivalent: Münzen, in die wie in ein Taschenmesser scharfe Sichelklingen eingelassen sind. Ein Schlüsselbund mit abgetrenntem Mercedesstern, Klimbim und professionellen Dietrichen, wie das Statussymbol eines Kleinkriminellen. Hunderte von Aufnähern an einem Paravent. Von Tankstellenlogos bis zu Hakenkreuzen ein Mikrokosmos von Symbolen, ihrer eigentlichen Werbungs-, Hinweis- oder Schmuckfunktion entledigt, bilden sie nun ein überfülltes Koordinatensystem sozialer und politischer Bezüge.

Die Besucher verlassen diesen harten Brocken Neokonzeptkunst mit einem Zitat aus Rilkes „Malte Laurids Brigge“ in Händen. Herausgelöst aus dem Romanfragment werden die Zeilen über die Zugehörigkeit zu arm oder reich zu einem Text-Readymade über die Selbsterkenntnis. Claire Fontaine will uns nicht so einfach in eine unhinterfragte Gegenwart entlassen. MARCUS WOELLER

Claire Fontaine, „Change“, Galerie Neu, Philippstr. 13, Mitte. Noch bis zum 23. August, Dienstag bis Samstag von 11 bis 18 Uhr