Dünkel auf der Treppe

Dem englischen Musical-Klassiker „My Fair Lady“ wurde in der ersten Eigenproduktion im Admiralspalast Genüge getan. Seine mit sprachlichem Lokalkolorit versetzte Inszenierung wäre dazu angetan, auch Musical-ferne Schichten ins Theater zu locken

Klassengegensätze treffen in Person eines Phonetikers und einer Blumenverkäuferin aufeinander

VON TIM CASPAR BOEHME

Musical: Das Wort ist für manche ähnlich positiv besetzt wie „Fegefeuer“. Gründe dafür mag es viele geben, doch scheint ein bürgerlicher Konsens zu bestehen, dass Musicals keine „richtige“ Kunst sind, sondern bloß Kitsch. Es genügt die bloße Erwähnung des Namens Andrew Lloyd Webber und sofort reagieren gewisse Kreise dem Genre gegenüber mit Dünkel. Offenbar kennen sie gar keine Musicals, die unterhaltsam, intelligent und lustig sind.

Ganz sicher auch zu dieser Kategorie gezählt werden kann „My Fair Lady“. Das bewies eimal mehr seine Premiere am Donnerstag im Admiralspalast. Als es noch Metropoltheater hieß, zu DDR-Zeiten also, feierte das Stück dort bereits große Erfolge. Für die erste große Eigenproduktion des vor zwei Jahren wiedereröffneten Hauses war darum Gala-Stimmung angesagt.

Vor dem Eingang ein rosa Teppich, am Rand lauerten Fotografen den Prominenten auf. Erschien in der Menge ein bekanntes Gesicht, wurde eine Phalanx gebildet und kurzer Prozess gemacht: „Frau Thalbach, bitte den Kopf etwas nach unten!“ Rabiater als die Presse mit der Prominenz springt Professor Henry Higgins in „My Fair Lady“ mit seiner „Schülerin“ Eliza Dolittle um.

Dass ein Phonetiker und eine Blumenverkäuferin in London aufeinandertreffen, um Klassenunterschiede hervorzuheben, ist die geniale Grundkonstellation des Stücks, dem George Bernard Shaws Komödie „Pygmalion“ als Vorlage dient.

Standesgemäßes Verhalten wird auf seiner elementarsten Stufe abgebildet, dem Sprechen-Können. Higgins geht mit seinem Kollegen Pickering die Wette ein, dass er aus der ungebildeten Eliza durch die richtige Sprecherziehung eine Dame machen kann, und gewinnt am Ende. Seine Methoden sind jedoch alles andere als gentlemanlike. „My Fair Lady“ lebt vom Witz der Dialoge und – in der deutschen Fassung – von der Gegenüberstellung des Hochdeutschen mit der Berliner Schnauze.

Regisseur Peter Lund, Professor für Musical an der UdK und früherer künstlerischer Leiter der Neuköllner Oper, setzt dabei auf Tempo. Besonders Daniel Morgenroth als Higgins muss regelrecht durch seinen Text hecheln. Die gleichgültige Überheblichkeit des Phonetik-Professors, der über die Befindlichkeiten seiner Mitmenschen unbekümmert hinwegstapft, unterstreicht Morgenroth mit abfälligem Sprachduktus, manchmal verheddert er sich im Text.

Der gewünschte Kontrast zur proletarisch schnauzenden Eliza Dolittle, resolut-zerbrechlich gespielt von Franziska Forster, stellt sich auch so ein. Trotz phonetischen Lokalkolorits lässt Lund das Stück originalgetreu in London spielen. Auch nennenswerte Aktualisierungen nimmt er an „My Fair Lady“ keine vor. Der Irrwitz des sozialen Experiments, das Higgins mit der wackeren Dolittle anstellt, kommt auch so gut zur Geltung. Dass die Geschichte in Ohrwurm-Melodien verpackt wird, stört kein bisschen. Am Anfang wirkt der berlinernde Gesang des Männerchors vielleicht ein wenig aufgesetzt, das schmetternde Klavierintro mag das eine oder andere Klischee zu viel bedienen, doch mit jeder weiteren Gesangsnummer schrumpft der innere Widerstand in sich zusammen. Die Frage, ob das jetzt nicht doch Kitsch ist, wird erst einmal vertagt.

Anders als in der Oper kann im Musical auch eine unausgebildete Stimme zu Wort kommen, oft passt sie sogar prima zum Stück. Auch in Lunds Inszenierung gibt es einerseits ausgebildete Sänger wie Forster oder den entwaffnenden jungen Dennis Jankowiak als Elizas Verehrer Freddie Eynsford, andererseits treten singende Schauspieler wie Morgenroth oder Udo Kroschwald auf, der Elizas Vater Alfred Dolittle als Raubein mit Kodderschnauze verkörpert.

Der Gesang ist durch diese Vielfalt grobkörniger, aber auch weniger statisch als in der herkömmlichen Oper.

Zu sehen gibt es minimalistische Ortsansichten. Das Bühnenbild von Jürgen Kirner wird beherrscht von einer monumentalen Treppe, sie ist Sinnbild für soziale Hierarchien mit ihren Auf- oder Abstiegsmöglichkeiten. Weitere Elemente wie Higgins’ Haus werden baukastenartig ergänzt. Vor dieser spartanischen Kulisse entstehen starke Bilder. So wird eine Gesellschaft beim Pferderennen als klapperndes Marionettenensemble in Weiß einprägsam in Szene gesetzt. Die Choreografie überzeugte jedoch nicht immer. Bei der wüsten Feier, mit der sich Alfred Dolittle auf den anstehenden Gang zum Traualtar einstimmt, zieht sich der Reigen mit Saufkumpanen und Huren dann doch ein wenig in die Länge.

Dem Publikum gefiel die Vorstellung außerordentlich. Es spendete reichlich Szenenapplaus. Gelacht wurde ebenfalls viel, am Ende wurde stehend geklatscht. Verdient. Diese Lady geht schwer in Ordnung.

„My Fair Lady“, noch bis zum 14. 9. im Admiralspalast