Themen für die Ewigkeit

Tilo Pätzolt macht „Die Zeitung“, die erste Zeitung, die immer gültig ist. Er hat so oft gehört, dass eh jeden Tag dasselbe in der Presse stehe. Nun verkauft er immer die gleiche Ausgabe. Ein Besuch

AUS BERLIN DAVID DENK

Der große Medientheoretiker Lukas Podolski hat kurz vor der WM 2006 noch Zeit gefunden, über das Wesen von Zeitungen nachzusinnen. „Was da heute drinsteht, das ist doch morgen schon wieder alt“, sagte Podolski der Stuttgarter Zeitung in Anlehnung an ein Sprichwort.

Ausnahmen bestätigen mal wieder die Regel. Die Ausnahme in diesem Fall heißt schlicht Die Zeitung und wird herausgegeben von einem Berliner Mathematikstudenten.

Keine Verarsche

Tag um Tag, Woche um Woche verkauft Tilo Pätzolt, meist mit Strohhut auf dem Kopf, die gleiche Ausgabe in den Kneipen seines Friedrichshainer Kiezes rund um die Simon-Dach-Straße und in Prenzlauer Berg – und niemand fühlt sich verarscht. Manche lachen sogar herzlich über die Idee des 29-Jährigen. „Einmalig: Die erste Zeitung für jeden Tag“, verspricht die Titelseite: „Immer gültig – heute kaufen – immer lesen.“

„Auf triviale Weise ist das allein schon deswegen zu viel versprochen, weil sich das Datum jeden Tag ändert“, bekennt Pätzolt. „Aber ich habe ja auch nicht versucht, Artikel zu schreiben, die jeden Tag gültig sind, sondern solche, die auch in zehn Jahren noch gültig sein könnten.“ Er habe so häufig gehört, dass doch sowieso immer dasselbe in der Zeitung stehe, dass er die Aussage „experimentell überprüfen“ wollte: „Mein Ziel war es, in jedem Artikel etwas Unterhaltsames über Vergänglichkeit und Ewigkeit rauszufinden.“

Auf 20 Seiten geht es um ein deutsch-französisches Gipfeltreffen, das neue SPD-Grundsatzprogramm, Rekordgewinne der Deutschen Bank und Streikdrohungen der IG Metall – in der Tat alles Themen für die Ewigkeit. „Viele gesellschaftliche Prozesse bewegen sich in arg vorhersehbaren Bahnen“, sagt Pätzolt.

Bei anderen würde ein solcher Satz womöglich altklug und kulturpessimistisch klingen; aus Pätzolts Mund kommt er als schnörkellose Erkenntnis, gewonnen aus seiner Lust am Experiment. „Es war schon immer so, dass ich künstlerisch-gestalterische Dinge zu verstehen versucht habe, indem ich sie einfach mache“, sagt Pätzolt, der deswegen schon verschiedene Musikinstrumente gelernt sowie Theaterstücke und Kurzgeschichten geschrieben hat. Und wie passt sein Mathematikstudium dazu? „Das habe ich auch aus Neugier studiert.“ In der Mathematik hat Pätzolt einen ebenbürtigen Sparringspartner gefunden: „Mir gefällt das Gefühl, dass es in der Mathematik nach jeder Hürde, die man genommen hat, noch unglaublich viele weitere gibt.“

Keine Perfektion

Mit seiner Zeitung ist Pätzolt durch. Zwar hat er gerade erst angefangen, die zweite Auflage zu 1.500 Stück zu verkaufen, „so oft, wie’s nottut und immer, bis ich ’nen Fuffi zusammenhabe“, im Kopf ist er aber schon ein Projekt weiter. Denn es geht ihm nicht um Perfektion, sondern darum, „eine Idee zu haben, wie etwas funktioniert, als würde man eine kleine Maschine öffnen und nachgucken“. Deswegen hat er in der zweiten Auflage der Zeitung bis auf ein paar Rechtschreibkorrekturen auch nichts verändert.

Nach fünf ebenfalls in Berliner Kneipen direkt vermarkteten Bänden mit Kurzgeschichten, „die nicht alle gut sind, aber auch nicht alle schlecht“, würde Pätzolt als Nächstes gerne ein richtiges Buch schreiben. – „Gibt’s so was wie ’nen Unterhaltungsroman?“, fragt er unsicher.

Auch bei der Wahl der Gattung denkt er also schon wieder an die Vermarktungschancen. „Ich versuche immer, so zu schreiben, dass ich es mir selber abkaufen würde“ – das heißt vor allem: humorvoll. Einer von Pätzolts Lieblingsartikeln in der Zeitung ist eine Meldung, zwei Zeilen kurz: „Immer mehr Menschen haben Internet.“ Punkt. Ende. Aus. Oder er persifliert die „Der gerechte Zorn“-Kolumne der Boulevardzeitung B.Z.: „Immer wenn ich eine bestimmte Zeitung lese, stößt mir eine bestimmte Kolumne übel auf. Mit Hilfe von Fett- und Kursivschrift wird hier eine arrogante Weltsicht auf die ihr zugrunde liegenden Vorurteile reduziert.“

Auch die taz hat es übrigens ins Blatt geschafft. Es geht mal wieder ums Überleben. „Mit einer […] Abonnentenkampagne soll die Rettung in letzter Minute nun doch noch gelingen. […] ‚Für die Presselandschaft ist die taz unverzichtbar‘ [zitiert Pätzolt einen taz-Sprecher]. „Wer berichtet sonst aus einer Perspektive, die niemanden interessiert. Auch wenn Sie die taz nicht lesen wollen, abonnieren Sie sie bitte.‘ “

Anmerkung der Redaktion: Wir nehmen es als Liebeserklärung.

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