: Die Schwimmfonie der Großstadt
Binnengewässer als soziale Utopie. Im 19. Jahrhundert hat sich die Spree vom Becken für Körperhygiene zum Freizeitvergnügen für Männlein und Weiblein gewandelt. Ein Pilotprojekt arbeitet nun an einem öffentlichen Schwimmbad im bereinigten Fluss
VON BARBARA KERNECK
Ein Schläfer liegt im Bett. Sein bleiern glänzendes Gesicht zeugt von großer Hitze und einem schweren Traum. Dann eilt der Blick des Zuschauers, dem Manne voraus, aus der Tür die Treppe hinunter, vorbei an grauen Plattenbauten zum Fluss. Dort weichen die Animationen und der Albtraum auf der Leinwand dokumentarischen Aufnahmen aus den 1920er-Jahren.
Ein befreiendes Gefühl von Aufbruch schwappt in den Zuschauerraum. Euphorisierte Schwimmer und Schwimmerinnen kraulen in kleinen Schwärmen die Spree entlang. Zwischen gefährlich schaukelnden Vergnügungsbötchen mit pagodenartigen Aufbauten zieht ein einsamer Langstreckenschwimmer seine Bahn – vor den exotisch anmutenden Gebäuden der Berliner Museumsinsel.
Die Szenenfolge stammt aus einem von zwei Filmen des Künstlers Sven Flechsenhar für die Ausstellung „Spree 2011. Baden im Fluss. Mitten in Berlin“ (siehe auch taz Berlin vom 1. August, S. 21). Ihr Initiator, Ingenieur Ralf Steeg, hat eine ebenso geniale wie preiswerte Methode ersonnen, mit deren Hilfe er und die Firma LURI.watersystems.GmbH der Spree ab dem Jahre 2011 abschnittweise wieder Badewasserqualität verleihen wollen.
Dabei sollen Abwasserauffangbehälter im Fluss verankert werden, in deren Innerem sich zahlreiche Klappen und Ventile, nach Raumschiffmanier ferngesteuert, öffnen und schließen. Flechsenhars Filme machen diese Technik anschaulich. Aber sie erinnern uns auch an eine soziale Utopie.
Querdenker und Visionäre waren die Pioniere der Flussbadebewegung in Berlin. So der preußische General und Politiker Ernst von Pfuel. Pfuel, selbst ein passionierter Schwimmer, gründete schon 1817 unweit der Oberbaumbrücke, seine Schwimm- und militärische Lehranstalt. Im Jahre 1848 untersagte er seinen Soldaten, auf die Aufständischen zu schießen. Dafür erlernten bei ihm in 50 Jahren fast 70.000 Rekruten das Brustschwimmen. Pfuel befürwortete diese Schwimmtechnik, weil er meinte, der Mensch ähnele in seinen „schwimmrelevanten Körperteilen“ dem Frosch. Viele seiner Schüler beteten vor der Erstberührung mit dem Wasser. Denn Durchschnittsbürger konnten damals nun mal nicht schwimmen.
Deshalb hatte in Berlin beim Baden im Fluss noch im 18. Jahrhundert sofortiger Arrest gedroht. Erst 1801 erhielt der Unternehmer Georg Adolf Welper die Erlaubnis, an der Langen Brücke ein Badehaus zu errichten – ein Sieg der Hygiene.
Die erste Generation der Berliner Badeanstalten diente nämlich weniger dem Schwimmen als vielmehr der Reinigung der Bürger in Kabinen mit Badewannen. Bei Welper standen dabei drei Kabinen unentgeltlich den Armen zur Verfügung.
Als aber das richtige Schwimmen in der Spree modern wurde, mangelte es an Anstalten für Frauen. Deshalb errichtete Amalie Lutze aus Halle 1831 auf Höhe des Schlosses Bellevue im Tiergarten das erste Berliner Frauenbad. Die Komponistin Fanny Hensel schrieb an ihren Bruder Felix Mendelssohn: „Mein größtes Vergnügen ist jetzt, alle Tage in der Spree zu baden. Hier sieht man eine große Anzahl zum Theil recht hübsche Berlinerinnen als vollkommene Najaden mit nassen Haaren plätschern.“
Eine linksliberale Mehrheit in der Berliner Stadtverordnetenversammlung machte ab 1862 Schwimmspaß für alle möglich. Die Städtischen Badeanstalten für beide Geschlechter bestanden aus sogenannten Prahmen, großen, schwimmenden Holzrechtecken, mit Zäunen zum Schutz der Badenden vor unzüchtigen Blicken.
1905 gab es in in der heutigen Innenstadt 15 Badeanstalten, in ganz Berlin waren es um die 30. Eine der populärsten war das Sachsesche Wellenbad auf der nordöstlichen Spitze der Lohmühleninsel. Männlein und Weiblein frönten dort gemeinsam dem abendlichen Lichttauchen. Mit wasserdichten Lampen blinkten sie sich auf dem Grunde der Spree neckisch zu.
Dann erwies sich das Wasser, in dem die die Leute auf den alten Aufnahmen so übermütig kraulen, als lebensgefährlich. Wegen ihres katastrophalen bakteriologischen Zustands mussten 1925 die Bäder in der Berliner Altstadt geschlossen werden, bis 1933 traf es die übrigen. Auch das freie Schwimmen in der Spree wurde wieder streng unterbunden.
Schon bald könnten wir in den europäischen Binnengewässern einen an der Ökofront nie da gewesenen Sieg feiern: viel sauberere Bedingungen zu erzielen, als unsere Urgroßeltern sie je kannten. Wenn die Berliner Stadtmenschen dann endlich ihre Froschähnlichkeit auslebten, wäre das Schwimmen genauso in den Alltag integrierbar wie flottes Gehen oder Radfahren.
Man könnte – wie heute schon wieder in Zürich oder Bern – eben mal neben dem Büro oder abends zu Besuch schwimmen. Der Rhythmus der Großstadt würde sich verändern, die Mittagspausen würden länger. Noch steht für das gemeinsame Projekt Steegs und der Berliner Wasserwerke die Finanzierung nur für den erste Pilotabschnitt. Doch unaufhaltsam ist das Bürgerbedürfnis, einem Horizont zuzuschwimmen, ohne ständig wenden zu müssen.
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