Weder Abrechnung noch Hommage

In seinem Spielfilm „Sweet Mud – Im Himmel gefangen“ erzählt der israelische Regisseur Dror Shaul von Lebensfreude jenseits kollektiver Zwänge und vom Leiden an der Härte des Gemeinschaftslebens im Kibbuz

Noch in den 70ern galten die israelischen Kibbuzim allen AnhängerInnen eines basisdemokratischen, einfachen Lebens als leuchtendes Beispiel ländlich-kollektiver Lebensweise, als Mutter aller Landkommunen. Seitdem hat sich einiges verändert. Längst sind viele Siedlungen wirtschaftlich und auch ideologisch unter Druck geraten, ziehen die dort groß Gewordenen in die Städte und kehren kollektivem Eigentum und Leben den Rücken. Davon erzählt der in einem Kibbuz aufgewachsene israelische Regisseur Dror Shaul in seinem Spielfilm „Sweet Mud – Im Himmel gefangen“, der auf der Berlinale im letzten Jahr den Kinder- und Jugendfilmpreis „Gläserner Bär“ gewonnen hat.

Es ist Nacht, ein Mann legt seine Zeitung zur Seite, nimmt seine Uzi und geht auf Patrouille. Ein Baby schreit, eine Frau macht sich an einem großen Kasten zu schaffen. Es gibt einen Lautsprecher, aber ein Dutzend Schalter. „Wir sind in einem Kibbuz, wo die Kinder gemeinsam in einem Kinderhaus untergebracht sind und auch schlafen. Damit ihre Eltern nicht von der Arbeit abgehalten werden“, erklärt ein eingeblendeter Text. Kindheit im Kibbuz, etwas anderes als das Aufwachsen in Familienstrukturen.

Miri, die Mutter des 12-jährigen Protagonisten Dvir, lebt allein, der Vater ist tot – wie er umgekommen ist, erfährt der Junge erst nach und nach. Auf dem Plenum muss die psychisch Angeschlagene beantragen, dass ihr Freund sie besuchen darf. Vier Wochen? Zu lang, der Gast müsse ja versorgt werden. Aber Miri habe doch so viel durchgemacht, wirft eine andere ein. Durchs Fenster hört Dvir heimlich zu, fühlt sich für die Mutter verantwortlich. Erwachsener sein zu müssen als die Erwachsenen, keine leichte Bürde für einen Zwölfjährigen. Zumal ihm die Gemeinschaft allerlei Aufgaben und religiöse Prüfungen auferlegt: Seine Bar Mizvah, der jüdische Ritus zur Aufnahme in die religiöse Mündigkeit, steht bevor. Als der Freund schließlich zu Besuch kommen darf, blüht die Mutter auf. Aber dann kommt es zu einem Zwischenfall, der alles verändert, und er muss die Kommune verlassen. Dvirs Mutter zerbricht schließlich am Gemeinschaftsleben und kommt in die Psychiatrie. Und Dvir muss sich entscheiden…

„Sweet Mud“ zeigt vor allem die Schattenseiten des Lebens im Kibbuz. Shaul hat mitnichten eine Hommage an das kollektive Leben jenseits des Privateigentums gedreht. Eine Abrechnung mit den Idealen der Kibbuzim ist indes auch nicht in seinem Interesse. Und auch Miris Verdikt, der Kibbuz habe versagt, das während eines Nervenkollapses aus ihr herausbricht, ist lediglich eine der möglichen Interpretationen. Denn vor allem sind die Menschen, was sie sind: Weder reine Sünder, noch Helden ohne Makel. GASTON KIRSCHE ROBERT MATTHIES

„Sweet Mud“ ist täglich um 17.15 Uhr im Koralle-Kino, Kattjahren 1, zu sehen; freenet-homepage.de/koralle