Die vereinigten Enkel des Turnvaters

Turnen ist wieder in im Land von Friedrich Ludwig Jahn: Acht Jahre nach dem historischen Tiefpunkt von Sydney ist nicht nur Fabian Hambüchen Weltklasse, sondern hinter ihm auch eine Riege mit Medaillenpotenzial entstanden

„Wie ein Eimer“, wird Andreas Wecker später sagen, steht er nach der Landung bei seiner Reck-Kür 1996. Der Georgia Dome in Atlanta ist hervorragend gefüllt, doch das Publikum jubelt nur verhalten, obwohl es soeben die beste Kür des Abends mitverfolgt hat. Wecker war erst der zweite Starter im Reck-Finale, viele Favoriten folgen noch. An die 9,850 Punkte von Wecker kommt aber niemand mehr heran. Die Leistungsdichte ist groß: Am Ende stehen fünf Männer auf dem Treppchen, drei teilen sich Platz drei. Andreas Wecker ist am Ziel seiner Träume: Seine fünfte olympische Medaille ist golden.

Zehn Jahre nach seinem größten sportlichen Triumph ist das Leben von Andreas Wecker ins Straucheln geraten. Sein Wellness-Center läuft nicht – er häuft Schulden an. Notgedrungen verkauft er 2006 all seine Medaillen im Internet – angeblich für lächerliche 26 Euro. Heute lebt der letzte deutsche Weltklasseturner vor Fabian Hambüchen streng gläubig, hat sich einer evangelischen Freikirche angeschlossen und ist für diese auch als Missionar tätig. JOH

Als Andreas Wecker 1996 Olympiasieger am Reck wird, feierte die deutsche Turngemeinde mit ihren über 5 Millionen organisierten Mitgliedern den Erfolg. Vier Jahre später in Sydney verpasste der Berliner, Zögling der DDR-Turnschule, den Einzug in das Reckfinale. Die Mannschaft blamierte sich bei den Spielen in Sydney regelrecht. Das Team wurde zehnter, ein historischer Tiefpunkt. Turnen war out im Lande Friedrich Ludwig Jahns, des deutschnationalen Vorturners, der 1811 begonnen hatte, die Deutschen turnerisch zu erziehen. Immer weniger Jungs wollten sich den harten Trainingsprogrammen unterwerfen. Fördergelder gab es aufgrund des schlechten Abschneidens bei Olympia nicht mehr im alten Umfang. Wer im Jahr 2000 das Wiedererstarken des deutschen Turnen vorhergesagt hätte, wäre wohl ausgelacht worden. Die Riegen aus China, Japan und Russland schienen auf Dauer enteilt.

Das Team war zerstritten. Der Verband versuchte, die Turner an einem Standort zu konzentrieren. Die Heimtrainer meuterten, wollten das Konzept nicht mittragen. Als Andreas Hirsch, ein ehemaliger DDR-Spitzenturner, 2002 in das Amt des Cheftrainers berufen wurde, waren zunächst seine Fähigkeiten als Vermittler gefragt. Eigentlich gehörte er zu den Befürwortern der Athletenkonzentration. Doch er zeigte sich lernfähig. Als Vater Hambüchen mit seinem Sohn auf den Plan trat, war ihm dieser zunächst verdächtig. Doch auch Hirsch sah schnell das große Potenzial, das in dessen Sohn Fabian steckte. Er hat sich mit dem ehrgeizigen Vater arrangiert, ebenso mit den Heimtrainern der anderen Turner. Kommen die besten zum Lehrgang zusammen, so bringen sie ihre Stammtrainer mit. Die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Athen war ein erster Erfolg der neuen Art der Kooperation.

Hirsch wusste als langjähriger Juniorenbetreuer um die Leistungsfähigkeit der deutschen Turner. Er sah es als seine Aufgabe an, „die Reserven aufzudröseln“, wie er einmal sagte. Akribisch arbeitete der manchmal oberlehrerhaft wirkende Trainer mit seinen Athleten. Die verbesserten sich über die Jahre deutlich. Und doch war es eine Riege von Namenlosen, die sich hinter Fabian Hambüchen, dem Kinderstar von 2004, aufreihte. Bis zur WM in Stuttgart. Da wurde die deutsche Mannschaft Dritter. Seitdem wissen die Deutschen Sportfans, dass auch Philipp Boy, Thomas Andergassen, Eugen Spiridonow, Marcel Nguyen und Robert Juckel gut turnen können.

ANDREAS RÜTTENAUER