die gelben seiten: Die Zuschauer, wo bleiben sie denn?
Auch zu Hause schaut der moderne Chinese lieber nach den Börsenkursen als den Spielen zu
Unter allen Fakten der Moderne spielen dieser Tage Chinas Internet-Diskutanten mit den Zahlen. Zum Beispiel mit diesen: Laut CCTV (China Central Television) haben sich bis zu 900 Millionen Chinesen am Bildschirm an der Eröffnungsfeier berauscht.
Laut Xinhua-Nachrichtenagentur haben sich, am vierten Tag der Olympiade schon, ca. 900 Milliarden Yuan Vermögen wegen dem Börsencrash in Schanghai in Luft aufgelöst. Auch unbestimmte Zahlengrößen erregen höchst rege Fantasien, etwa diese: Warum zeigen sich in den teuersten Stadien immer wieder leere Sitzreihen, bei so aufpeitschenden Spielen, mit so vielen Goldmedaillen für China? Antwort: weil so zahlreiche Kleinanleger uncool gewesen sind. Sie begaffen die meiste Zeit die Flimmertafeln der Börsen anstelle der Mattscheiben zu Hause, geschweige denn die Großbildschirme in den Städten, erst recht nicht Realbilder in den Stadien. Fazit: Das 50 Millionen zählende Börsenvolk, laut so manchem User in bbs.people.com.cn, sei der Ehre als Staatsbürger Chinas unwürdig und bedürfte effektiverer Umerziehung zum Patriotismus.
Gewiss: Mit den Zahlen spielen bei weitem nicht alle so plakativ. Wenn Chinesen, die nicht in der Hauptstadt als Einwohner registriert sind, in die Stadien kommen wollen, müssen sie erstens wegen Bürgerpflicht zur Luftreinhaltung beachten, am richtigen Tag mit richtigen Endziffern der Autokennzeichen zu kommen. Dreimal müssen sie sich zweitens an Sicherheitskontrollen bis ins Stadtzentrum strengstens überprüfen lassen, unbeschadet der Ad-hoc-Checks nahe den Stadien. Drittens müssen sie eine zweistellige Teuerung der Benzinpreise veranschlagen. Nicht zuletzt lastet auf ihnen ein Generalverdacht schwer identifizierbarer Terrorverdächtiger. Fünftens könnte sich unter Sportbegeisterten eine unbestimmte Masse damit beschäftigen, auszurechnen, um wie viel weniger sie für die Erdbebenopfer hätte spenden müssen, um die Verluste an den Börsen nun aufzufangen. Und zuallerletzt sei gesagt: Nicht alle sind so selbstlos wie der kommunistische Mustersoldat Lei Feng aus dem Jahr 1963. Wir leben doch schon in 2008.
Shi Ming, 51, stammt aus Peking und lebt als Journalist in Köln
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen