Staatsfeind Nummer eins

Der chinesische Anwalt Zheng Enchong kann sich die Olympischen Spiele nur vor dem Fernseher in seiner Shanghaier Wohnung anschauen – weil er gegen die Korruption kämpft, steht er unter Hausarrest

Anwendung: Der Hausarrest ist eine alte Waffe der Kommunistischen Partei. Die Partei wendet sie ohne gerichtliches Urteil an, gibt ihr noch nicht mal den Schleier der Legalität. Dafür trifft sie Leute, denen man auch nichts vorwerfen kann. Betroffene: Der berühmteste Chinese unter Hausarrest war lange Zeit Zhao Ziyang, der geniale Reformer der 80er-Jahre. Er leitete die marktliberale Landreform seiner Zeit, wurde Premier und 1987 sogar Generalsekretär der KP, bis er inmitten der Studentenunruhen im Frühjahr 1989 spurlos verschwand und bis zu seinem Tod 2006 nie wieder öffentlich zu sehen war. In diesen 17 Jahren aber stand Zhao unter Hausarrest, weil er in den Augen der Partei die demonstrierenden Studenten unterstützt hatte. Zhengs Fall hat durchaus Ähnlichkeiten. Auch er hat sich um die Partei verdient gemacht. Seine Recherchen brachten mit der Schanghaier Parteiführung auch die innerparteilichen Gegner der Pekinger Parteiführung hinter Schloss und Riegel. Sie weiß ihm das auf ihre Art zu danken: Hausarrest ist für ihre Gegner noch die mildere Strafe. Dass Zheng aber in diesem Jahr auch noch gefoltert wurde, geht nicht auf die Pekinger, sondern auf die Schanghaier Parteiführung zurück, die ihn für das hasst, was er ihr beschert hat. Man könnte sogar annehmen, dass ihn der Hausarrest heute schützt vor brutaleren Strafen seiner lokalen Widersacher.

AUS PEKING GEORG BLUME

Zheng Enchong schaut in seiner Privatwohnung im 14. Stocke eines neuen Shanghaier Hochhauses Olympia. Er guckt im Stehen, das schwarze Wohnzimmersofa benutzt er nie. Der Fernseher steht vor einem Glastisch mit Pandabären-Muster. Über ihm hängt ein Jesus-Porträt. Zheng ist Christ und Tischtennis-Fan. Jetzt schaut er gerade das Volleyballspiel der Frauen zwischen China und Kuba an. China gewinnt die ersten zwei Sätze und verliert am Ende das Spiel. Zheng leidet. Doch er freut sich auf die nächsten Spiele. „Ich war ein toller Tischtennisspieler, als ich zur Mittelschule ging“, sagt Zheng. Er wäre damals sogar nach der Schule noch zur Sportschule gegangen. Er habe eine Urkunde bekommen, die ihn als Tischtennisspieler dritten Ranges auszeichnet. In China wolle das was heißen. Zheng träumt ein bisschen von seiner Jugendzeit. Dann sagt er: „Ich würde gerne nach Peking fahren, um mir ein Tischtennisspiel bei den Olympischen Spielen anzuschauen.“

Keine Chance. Zheng, 57 Jahre, steht unter Hausarrest. Seit März darf er seine Wohnung nicht mehr verlassen. Mit Beginn der Olympischen Spiele wurde die Polizeiwache vor seiner Appartmenttür sogar noch aufgestockt. Statt bisher drei hausen nun vier Zivilpolizisten im Aufzugsflur des 14. Stocks. Sie kauern rund um die Uhr auf Klappstühlen und einer alten Matratze vor dem Flurfenster. Sie haben außer Thermosflasche, Teegläsern und Dosen, die sie als Aschenbecher verwenden, nichts bei sich. Sie tragen abgewetzte, dunkle Kleider. Bei ausländischem Besuch verschwinden sie im Treppenhaus. Sie wirken ärmlich, ihr Lager ist primitiv. Aber für Zheng sind sie der Schrecken im eigenen Haus. „Vor den Spielen wurde meine Frau ab und zu mal verfolgt. Jetzt folgen ihr ständig zwei Wachleute und halten sich dicht hinter ihr“, klagt Zheng. Er selbst dürfe gar nicht raus, nur Freunde könnten ihn besuchen. „Aber viele von ihnen werden jetzt auch bewacht“, sagt Zheng.

Er ist Rechtsanwalt und Shanghais bekanntester Dissident. Er nennt sich nicht ohne Stolz „Shanghais Staatsfeind Nummer eins“. Er gehört zu einer Generation, die durch die Kulturrevolution ihrer Studienchancen beraubt wurden. Erst in den 90er-Jahren gelang es ihm nach langem Studium außerhalb der Universität die Rechtsanwaltslizenz zu bekommen. Dann aber wurde er aktiv. Er nahm sich der Leute an, die durch die Stadtsanierung ihre Häuser verloren. Er klagte gegen große Immobilienfirmen, sogar gegen die Bauherren der weltweit ersten Transrapidstrecke zum neuen Shanghaier Flughafen. Er war mit seinen Recherchen so erfolgreich, dass heute viele glauben, er sei der Auslöser für die Aufdeckung der Shanghaier Betrugsskandale gewesen, die erst den Immobilienhai Zhou Zhengyi – damals an elfter Stelle unter Chinas Reichsten – hinter Gitter brachten und später für den Sturz des Shanghaier KP-Chef Chen Liangyu sorgten. Doch als Chen 2005 stürzte, saß Zheng schon zwei Jahre im Gefängnis. Er war der KP in Shanghai zu gefährlich geworden. Deshalb ließ die Partei ihn von einem Gericht zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilen. Zheng hatte einer amerikanischen Menschenrechtsorganisation Informationen über Proteste geschickt. Die Anklage gegen ihn lautete auf „unrechtmäßige Herausgabe von Staatsgeheimnissen ans Ausland“ – der klassische Fall eines politischen Prozesses in China.

Das aber machte Zheng im Westen berühmt. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international nahm sich seines Falles an, der Deutsche Richterbund sprach ihm 2006 seinen von Bundespräsident Horst Köhler (CDU) überreichten Menschenrechtspreis zu. Da war Zheng freilich noch in Gefangenschaft, und seine Tochter nahm den Preis von Köhler entgegen.

Zheng verbrachte die Haft in einer 3,3 Quadratmeter großen Zelle mit Schwerverbrechern. Er geht jetzt täglich viele Male den Weg vom Fernseher entlang dem Sofa in sein Rechtsanwaltsbüro, das sich bis heute unverändert in seiner Wohnung befindet. Er sagt, er könne mit den Spaziergängen in seinem Appartement gut leben, weil er in der Haft gelernt habe, sich auf noch viel engerem Raum mit Bewegungen fit zu halten. So habe er auch gelernt, im Stehen Fernsehen zu schauen. Er geht in sein Büro und streckt den Kopf aus dem Fenster. Er lebt mitten im Stadtzentrum, er zeigt auf sein Shanghai: Wolkenkratzer, alte Kolonialbauten, kleine Gassen. Ihm habe das gemischte Bild der Stadt immer gefallen, sagt Zheng. Er schimpft auf die „schlechte Stadtplanung“. Die Hochhäuser machten die Grundstücke rund um sie herum wertlos. Er kennt sich immer noch aus. Im Januar beriet er die heutigen Gegner der Erweiterung der Transrapidstrecke in Shanghai. Kurz darauf wurde er von der Polizei festgenommen und auf einer Wache gefoltert. „Wir wollen uns dazu nicht äußern. Wir sind befangen, wenn es einen Zusammenhang zwischen den Misshandlungen Zhengs und dem Projekt gäbe“, teilte daraufhin der am Ausbau der Strecke interessierte Siemens-Konzern in Peking der taz mit.

Zheng ärgert das Verhalten von Siemens. Nicht wegen seiner Rolle in dem Fall, an die er selbst nicht glaubt. Aber er rät dem deutschen Konzern sich chinesische Rechtsanwälte zu nehmen, um nach möglichen Bürgerrechtsverletzungen beim Ausbau der Transrapid-Strecke zu fahnden. Die gäbe es nämlich sicherlich. Und hier liegt Zhengs Engagement: „Mein Ziel ist nicht, die KP zu stürzen“, sagt er. „Es geht nur darum, die Rechte, die unsere Verfassung ohnehin garantiert, in der Praxis auszubauen.“ Trotz Haft, Hausarrest und Folter wirkt er ungebrochen. Er sieht sich als Protagonist einer neuen Rechtsschutz-Bewegung in China. Als einer von vielen Rechtsanwälten des Landes, die für Menschenrechte und gegen ihre Verletzung durch die Behörden kämpfen. „Wir sind eine milde Reformbewegung, wir sind keine Revolutionäre“, sagt Zheng.

Er freut sich über die Olympischen Spiele in China. Die Eröffnungsfeier, die er im Fernsehen sah, hat für ihn symbolische Bedeutung. „Dass über 80 ausländische Staatschefs und Politiker teilnahmen, zeigt den Fortschritt der Globalisierung und die immer bedeutender werdende Rolle Chinas“, sagt Zheng. Der damit verbundene Austausch werde zu einer größeren Achtung der Menschenrechte und der Religionsfreiheit führen. „Überhaupt wird dadurch die Öffnung und der Demokratisierungsprozess in China gefördert. Ich gehöre nicht zu denen, die den US-Präsidenten George Bush zu den Spielen nicht willkommen geheißen haben“.

Er lobt ganz besonders die taiwanischen Politiker, von denen nicht wenige eine Unabhängigkeit ihrer Insel befürworten. Auch sie hätten die Olympischen Spiele nutzen können, um Peking Probleme zu machen, sagt Zheng. Stattdessen hätten sie „ganzheitlich, rücksichtsvoll und umsichtig“ gehandelt. „Die Harmonie zwischen Taiwan und dem Festland ist lobenswert“, sagt Zheng.

Er benutzt den Begriff Harmonie, den sich die KP auf ihren Fahnen geschrieben hat: Ist er wirklich ein Dissident? Er attestiert Zhang Yimou, dem Chefregisseur der olympischen Eröffnungsfeier, dass er mit seiner Inszenierung im Olympiastadion ein Bild von „Weltharmonie und Weltgesellschaft“ entworfen habe. Lobt er jetzt nicht die Propaganda? Doch Dissidenten in China reden selten so, wie es sich ihre Unterstützer im Westen wünschten. Sie urteilen meist sehr viel milder als die China-Kritiker im Westen. „Im Vergleich zu seinen Vorgängern hört Hu Jintao viel mehr auf die Stimme des Volkes“, sagt Zheng über den amtierenden Partei- und Staatschef. Dabei wurde er unter Hu verurteilt, ins Gefängnis gesteckt und gefoltert.