die taz vor 10 jahren: helmut kohls zukunft
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Helmut Kohl hat immer ein gutes Gespür für Stimmungen gehabt. Es ist wohl nicht nur Zweckoptimismus, wenn der Bundeskanzler jetzt betont, daß sich bei den Umfragewerten für die Parteien noch vieles ändern kann. Die Wahl ist noch nicht entschieden und der SPD-Kandidat Gerhard Schröder noch nicht am Ziel seiner Träume angelangt. Kohl hat sich gestern öffentlich über die ständig wachsende Zahl von Deutschen gefreut, die an den wirtschaftlichen Aufschwung glauben. Da hat er auch allen Grund zur Freude: Vor vier Jahren hatte die Regierungskoalition ihren knappen Sieg vor allem den weitverbreiteten Hoffnungen auf einen dauerhaften Abbau der Arbeitslosigkeit zu verdanken. Vieles wird für die Union also davon abhängen, ob es ihr ein zweites Mal gelingt, die Bevölkerung von einer Trendwende am Arbeitsmarkt zu überzeugen.

Kaum jemand glaubt noch daran, daß das ehemals hochgehaltene Ziel der Vollbeschäftigung in absehbarer Zukunft zu erreichen sein wird. Wahlkämpfe sind niemals Schauplatz herausragender Sachdebatten, sondern immer Zeiten emotional gefärbter Zuspitzungen gewesen. Aber seit dem Ende der bipolaren Welt verwischen sich in immer stärkerem Maße die programmatischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Parteien. Über den Wahlsieg entscheidet also derzeit nicht der politische Inhalt oder das Konzept von Staat und Gesellschaft, sondern angewandte Psychologie. Es ist sehr fraglich, ob Kohl in dieser Technik noch immer Meister ist. Kaum je zuvor sind ihm auch Journalisten, die für regierungsfreundliche Medien arbeiten, mit so viel Skepsis und Sarkasmus hinsichtlich seiner Siegeschancen begegnet wie gestern auf seiner Pressekonferenz in Bonn. Es ist wahr, daß in der Bundesrepublik bisher noch niemals ein Regierungschef abgewählt worden ist. Aber es hat auch noch keiner eine Wahl gewonnen, an dessen Sieg die Medien nicht mehr geglaubt haben.

BETTINA GAUS