Kein Olympiataumel im Erdbebengebiet

Die Erdbebenopfer lassen sich von den Spielen nicht ablenken, haben zwei deutsche Psychoanalytikerinnen festgestellt

BERLIN taz ■ Wer in China zurzeit den Fernseher anschaltet, den trifft die geballte Olympialadung. Sport und euphorische Fans auf allen Kanälen. Wenn man jedoch ausschaltet, bleibt davon nicht viel übrig. Während die Spiele in Peking omnipräsent sind, beschäftigen die Menschen in der südwestlichen Provinz Sichuan noch immer die Folgen des Erdbebens vom 12. Mai. 70.000 Menschen starben, 5 Millionen wurden obdachlos. Noch immer liegen Schulen in Trümmern, Straßen sind blockiert, die Menschen sind traumatisiert.

Die Psychoanalytikerinnen Marianne Rauwald und Helga Kraus vom Institut für Traumabearbeitung aus Frankfurt am Main waren im Auftrag der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie jetzt für zwei Wochen in Chengdu. In der nur wenig vom Erdbeben betroffenen Provinzhauptstadt schulten sie die Helfer in der Traumabewältigung. Denn Psychoanalyse ist in China ein bisher vernachlässigtes Behandlungsfeld.

Traditionell ist es in China nicht üblich, sein persönliches Befinden nach außen zu tragen. Unter Mao galten psychische Probleme als Zeichen einer reaktionären Gesinnung, der man nur durch Umerziehung beikommen konnte. Psychologie firmierte als idealistische Wissenschaft der Kapitalisten. Mittlerweile ist Psychologie zwar anerkannt, doch gibt es laut der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua aber nur 15.000 Psychiater für 1,3 Milliarde Chinesen. Und im Bereich der Traumabewältigung arbeiten nur wenige Fachärzte in Peking.

„Gemeinschaftliche Erlebnisse können durchaus helfen, gerade wenn es um traumatisierte Massen wie bei den Erdbebenopfern geht“, sagt Rauwald. Auch ein Olympiataumel könne auf andere Gedanken bringen – jedoch sei davon in Chengdu nichts zu spüren gewesen. „Selbst als der Fackellauf durch Sichuan führte, haben wir davon nichts mitbekommen“, ergänzt Kraus. Stattdessen hätten sich die Helfer therapeutischer Wirkungen gemeinschaftlicher Aktivitäten bedient, die in Form von Tai-Chi oder auch Singen in China weit verbreitet sind.

Interessant sei bei ihrer Arbeit gewesen, dass die Reaktionen auf Extremsituationen jenseits aller kulturellen Unterschiede ähnlich seien. „Die archaische Verarbeitung durch Verdrängung oder Vergessen funktionierte da genau so, wie wir es auch von unserer Arbeit in Deutschland kennen“, berichtet Rauwald. Viele zögen sich dann ganz aus der Welt zurück; andere blieben in ihrem Trauma stecken und würden von den immer gleichen traumatisierenden Bildern überflutet. „Da muss man gegensteuern.“

Die Großstadt Chengdu habe einen Monat nach dem Beben jedoch wieder funktioniert, als sei nichts gewesen, berichtet Kraus. „Während einer unserer Schulungen haben wir jedoch ein Nachbeben erlebt.“ Für Minuten hätten die Wände gewackelt, das Gespräch sei sofort abgebrochen. „Als das Beben aufhörte, wurde der angefangene Satz jedoch einfach beendet. Das Leben geht weiter.“ Und es bleibt in Chengdu jenseits des Fernsehprogramms auch von den Olympischen Spielen unbeeinflusst. Lediglich im Tibeterviertel der Stadt habe man eine Woche vor Beginn der Spiele eine Veränderung bemerkt. „Plötzlich war dort jeden Tag die Polizei im Großeinsatz“, berichtet Kraus. „Sie führten Razzien durch und die Geschäfte schlossen früher.“ Auf dieser Ebene haben die Olympischen Spiele doch das ganze Land ergriffen.

JULIANE WIEDEMEIER