Der lange Marsch des Langweilers

Tischtennis-Ausnahmespieler Timo Boll ist ein Anti-Star. Er ist weder exaltiert noch prätentiös. Um nach der Silbermedaille mit der Mannschaft auch im Einzel auf dem Siegerpodest zu stehen, will er perfektes Handwerk „wie ein Bäckermeister“ bieten. Denn inzwischen sind die Chinesen auch nervenstark

Timo Boll greift am Donnerstag ins olympische Einzelturnier ein. In den ersten beiden Hauptrunden hat er aufgrund seiner guten Position in der Setzliste Freilose. Weniger Losglück hatte der achtfache Deutsche Meister und Weltranglistensechste allerdings für den Turnierverlauf: Gewinnt Boll sein erstes Match, trifft er bereits im Viertelfinale am Freitag auf den Chinesen Ma Lin. Gegen den Zweiten der Weltrangliste hatte Boll im Team-Finale mit 1:3 (7:11, 11:8, 4:11, 7:11) verloren.

AUS PEKING MARKUS VÖLKER

Es ist nur ein Gerücht, aber eines, das sich hartnäckig hält. In China soll es ein gespenstisches Casting gegeben haben. China suchte den Timo Boll. Man fahndete nach einem Klon des Deutschen. Es ging um einen Tischtennisspieler, der so groß ist wie der Deutsche, so behände, so schlagstark und aggressiv. Angeblich haben sie für jeden der europäischen Weltklasseschläger eine Kopie auf Lager, eine für den Weißrussen Samsonov, eine für den Österreicher Schlager und auch für all die anderen eine.

Die Kopien werden je nach Güte in die Klasse A, B oder C eingeordnet. Man kennt ihre Namen nicht. Auch Timo Boll weiß nicht, wer ihn in China an der Tischtennisplatte vertritt. „Keine Ahnung, ob das überhaupt stimmt“, sagt die Nummer sechs der Welt. Kann man ihn überhaupt kopieren, ihn und sein exzeptionelles Spiel? In China, einer Nation von Raubkopierern, soll das angeblich ein Klacks sein.

Noch einen Wiedergänger hat Boll in dem chinesischen Journalisten Zhang Li, der für die größte Sportzeitung des Landes, Titan Sports, eine Kolumne im Namen des deutschen Schmetterkünstlers verfasst. Li ist Bolls Ghostwriter. Die Kolumne wird oft angeklickt, kein Wunder, Timo Boll ist im Land des Pingpongs ein Star; 2007 wurde er in China vor David Beckham zum attraktivsten Sportler der Welt gewählt – Boll, Träger der bronzenen Ehrennadel des Odenwalds.

Li sagt seinen Lesern zum Beispiel, dass Boll am Ball ein echter Trickser und privat ein recht witziger Typ ist. Das erschließt sich dem distanzierten Beobachter auf den ersten Blick nicht. Boll, so scheint es, geht in seiner Sportkarriere den langen Marsch des Langweilers. Der führt von Höchst im Odenwald nach Peking.

In China will er die olympische Goldmedaille gewinnen, gegen eine Übermacht chinesischer Spitzenspieler, gegen die Mas und Wangs. „Wenn ich eine Medaille im Einzel gewinnen will, dann muss ich einen Tick zulegen, die Chinesen haben sich ja bärenstark präsentiert“, sagt Boll. Silber hat er bereits gewonnen. Er und seine Mannschaftskameraden Christian Süß und Dimitrij Ovtcharov mussten sich im Teamwettbewerb nur den Chinesen beugen.

„Wir Europäer können nur gewinnen, wenn wir über uns hinauswachsen“, sagt er. Technisch seien die Chinesen eine ganze Klasse besser als der Rest und athletisch bewegten sie sich mittlerweile auch auf einem Topniveau, sagt Boll. Ja, selbst ihre Nerven, die ihnen manchmal in entscheidenden Situationen rissen, sind jetzt so strapazierfähig wie Stahlwinden. „Wir haben im Finale darauf spekuliert, dass sie weiche Knie bekommen, aber das ist nicht eingetreten“, spricht Boll über eine trügerische Hoffnung.

Boll und der Ball, das ist eine ebenso innige Beziehung wie Bolls Verhältnis zum chinesischen Volk. „Die Leute reißen mir die Klamotten vom Leib“, hat er 2003 in einem Interview gesagt. „Ohne Polizeischutz kann ich da gar nicht mehr aus der Halle gehen.“ Heute sagt Boll: „Wenn ich rausgehe, das olympische Dorf verlasse, wird es anstrengend, es artet dann schon mal aus, vor allem wenn es zur Gruppenbildung kommt.“

Zum Glück sei er nicht 2,13 groß, sagt Boll. Er rage nicht aus der Masse heraus, aber wenn er dennoch erspäht werde, gebe es kein Entweichen. Aufläufe dieser Art will Boll in den Tagen der Olympischen Spiele vermeiden, weshalb er sich „abschottet“, wie er berichtet. „Ich bin auch nicht der große Olympiatourist, ich verspüre nicht den Drang, mir alles anzuschauen.“ Er will die Konzentration nicht verlieren. „Ich habe hier meine geregelten Abläufe“, sagt der 27-Jährige.

Fast unbeteiligt sitzt er auf dem Podium und stellt sich den Fragen. Sprechen die anderen über ihre olympischen Erlebnisse, so geht Bolls Blick nach innen. Er sinniert, wirkt abwesend. Manchmal nickt er abwesend. Er ist, so wie er dasitzt, ein Anti-Star. Weder exaltiert noch prätentiös. „Ich kann etwas sehr gut“, das ist sein Credo, „so wie ein Bäckermeister, der sehr gut Brötchen backen kann.“ Das heißt: Boll will kein Künstler sein, sondern ein Handwerker. Der Linkshänder will seine Sache einfach sehr gut machen. Man sagt, er variiere seine Schläge wie kein Zweiter, er treffe den Ball so früh, dass der Gegner nur noch überrascht sei, was für ein Geschoss da geflogen kommt.

Und er hat gute Augen, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch Boll beschreibt, wie gut er gucken kann. „Ich schaue beim Aufschlag des Gegners auf den Stempel des Balles und versuche so, die Rotation zu erahnen.“ Das kann nicht jeder. Aber er muss an die Grenzen gehen in einem Spiel, „in dem es nicht mehr reicht, den Ball gut zurückzuspielen“. Man muss im Voraus wissen, was der Gegner plant, muss antizipieren wie ein Schachspieler. Timo Boll, Vorlage für diverse Plagiate, will so die Chinesen schlagen. Das Original, versteht sich.