KOMMENTAR DES TAGES
: Todgeweihte grüßen uns

Was ist denn da los? Einarmige Tischtennisspielerinnen aus Polen. Einbeinige Langstreckenschwimmerinnen aus Südafrika. Und beinahe wäre auch noch ein doppelt unterschenkelamputierter Viertelmeiler durchs Rund des Pekinger Nationalstadions gespurtet. Mitunter könnte man sich bei der falschen Veranstaltung wähnen: Haben die Paralympics womöglich schon begonnen?

Die Antwort ist: Jein. Denn in Peking sind nicht nur offiziell behinderte Sportler zu bestaunen, die gut genug sind, mit ihren vermeintlich gesunden Konkurrenten mitzuhalten. Tatsächlich laufen und springen, heben und schwimmen bei den Olympischen Spielen eigentlich doch überall Versehrte: Schwimmer, deren dünne Beinchen kaum die aufgeplusterten Oberkörper zum Startblock tragen können; 17-jährige Turnerinnen mit abgetriebener Geschlechtsreife; Ruderinnen mit der Kinnpartie eines griechischen Kriegsgottes. Und alle müssen sie ihren aktuellen Aufenthaltsort auf die Viertelstunde genau angeben und unter Aufsicht pinkeln: Sind das nicht die eigentlich Behinderten?

Und dann, spätestens nach dem Ende ihrer Karriere, wenn sie die teuren Drogen absetzen und die hochprofessionelle medizinische Betreuung endet, steht manchem Helden von heute ein Leben als körperliches Wrack bevor. Schon jetzt sterben sie wie die Fliegen, die Opfer der ersten großen Anabolika-Welle aus den Siebziger- und Achtzigerjahren: mit Gold dekorierte Hammerwerfer und Diskuswerfer. Gewichtheberinnen sind unfruchtbar geworden, aus der DDR-Kugelstoßerin Heidi Krieger machten die Drogen gar einen Andreas. Florence Griffith-Joyner hält heute noch die Weltrekorde über 100 und 200 Meter, kann das aber nur mehr von unterhalb der Grasnarbe genießen.

Die Spiele, seien wir ehrlich, sind eine Leistungsschau der Freaks geworden, eine Wetteifern der Pharma-Industrie, ein letztes Schaulaufen Todgeweihter. Mit dem Alltag der Zuschauer, mit dem wahren Leben hat das nichts mehr zu tun. Der Spitzensport hat seine bis heute postulierte Vorbildfunktion lange schon verwirkt: Die Leistungen sind – im wahrsten Sinne des Wortes – übermenschlich, der Sport das Gegenteil von gesundheitsfördernd, die Athleten eher programmierte Maschinen als verletzliche Körper.

Und wer jetzt glaubt, die sich an diese Monstershow anschließenden Paralympics seien eine Alternative, weil dort die alten Ideale noch hochgehalten werden, auch der muss enttäuscht werden: Selbst im Behindertensport grassiert längst das Doping. THOMAS WINKLER