Typische Aufsteiger-Reflexe

betr.: „Viele SPD-Funktionäre sind zu alt“ von Tobias Dürr, taz vom 21. 8. 08

Oberflächlicher geht’s nimmer. Dürr arbeitet sich an solchen Begriffe wie „jung“ und „dynamisch“ ab, ohne zu berücksichtigen, dass in der SPD historisch bedingt die gesellschaftlichen Verwerfungen am deutlichsten zutage treten. Jene Generation, die im keynesianischen Zeitalter aufgestiegen und Posten in Staat und Wirtschaft besetzt hat, weiß diese im neoliberalen Zeitalter, in welchem der Verteilungsspielraum verknappt wurde, nach unten hin abzuschirmen. Das sind ganz typische Aufsteiger-Reflexe. Es handelt sich hier um eine Nomenklatura aus emporgekommenen Arbeiterkindern und ehemaligen Kleinbürgern, die in Verbund mit den ewigen hohen Tieren das repräsentative System und den Kapitalismus zu ihrem Vorteil verwalten.

Das wird noch schön so weitergehen. Deutschland und Europa verlieren ihre volkswirtschaftliche Substanz, zumal staatliche Programme aus deren Sicht schon emanzipatorische Potenzen aufweisen. Denn solche Programme bieten in einem demokratisch bestimmbaren Rahmen eine Ausflucht von den Schlägen einer prozyklisch gehandhabten Wirtschaft – und neue Aufstiegsmöglichkeiten. Der Keynesianismus war in seinem Kern ein sozialdemokratisches Projekt, dem die Bürgerlichen sich im Angesicht des Kalten Krieges und in Erinnerung an Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg nur zu gern anschlossen. Im Zuge der Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft wurde der Machtfaktor SPD für Bürgerliche (wie Clement oder Dohnanyi) attraktiv und führende Sozialdemokraten entwickelten einen bürgerlichen Lebensstil und übernahmen dessen Wertekanon – und dieser ist von Egoismus und Besitzstandwahrung gekennzeichnet. Im Problem der SPD spiegelt sich das Problem Deutschlands. MALTE NEUMANN, Köln

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