: Die Puppen tanzen lassen
MS Schrittmacher feiert Party im 103: Seit 10 Jahren zeigt Martin Stiefermann sein verspieltes Tanztheater im Dock 11. In Tanzhörspielen mit Martin Wittekind wandte er sich einer finsteren Zukunft zu
Reichlich viel zu feiern hat die Berliner Tanzszene dieses Jahr: 20 Jahre Tanz im August, 15 Jahre Sasha Waltz & Guests, die mit einer Wiederaufführungsserie ihrer Körper-Trilogie in der Schaubühne die Spielzeit einleitet. Seit 10 Jahren gibt es auch die Compagnie MS Schrittmacher von Martin Stiefermann. Er lädt deshalb heute Abend in den Club 103: In einer Videoinstallation und live werden dort Ausschnitte aus dem MS-Schrittmacher-Programm gezeigt, und statt eines Geburtstagsständchens bringen viele befreundete Choreografen, Tänzer und Theaterleute eine kurze Performance mit.
Stiefermanns Tanztheater setzte schon in den ersten Stücken seiner freien Compagnie MS Schrittmacher auf eine erzählerische und szenische Einbettung des Tanzes. In der Remise vom Dock 11, die ohne Hinter- oder Seitenbühnen technisch nicht viele Möglichkeiten bietet, wusste MS Schrittmacher doch immer mit technisch ausgeklügelten Bühnenelementen und spielerischen Requisiten einen liebevoll ausgestatteten Kontext vorzugeben, der das tänzerische Geschehen thematisch einzuordnen und verstehen ließ. Ob das in „Spiele für Erwachsene“ (1999) eine biografische Skizze des Konkurrenzverhaltens war, in „Aus einer Wurzel zart“ (1998) die Rituale des Weihnachtsfeierns oder das Fetischverhalten von Tierliebhabern in „Mit Essen spielt man nicht“, deutbar und unterhaltsam waren Stiefermanns Stücke schon zu Beginn.
14 Uraufführungen entstanden seit 1998, oft 10, 20, 30 Mal in Berlin gespielt, teils außerhalb. Zwischen 2001 und 2006 war Stiefermann zudem gleichzeitig Direktor der Sparte Tanz am Odenburgischen Staatstheater, sodass seine freie Gruppe mit den Tänzern dort kooperieren konnte. Als Koproduktionen von MS Schrittmacher und dem Oldenburgischen Staatstheater entwickelte Martin Stiefermann eine Trilogie von Tanzhörspielen, für die der Autor Matthias Wittekind die Texte schrieb. In ihnen kommt der verspielte und tändelnde Duktus von MS Schrittmacher mit einer sehr viel düsteren Stimmung zusammen. Die zuvor eindeutige soziale Verortung der Stücke weicht einem labyrinthischen Verwirrspiel, denn Wittekind legt es in seinen Texten gerade auf ein ständiges Verwischen dessen an, was man bis dahin zu verstehen glaubte.
Die Erzählstimme und das tänzerische Geschehen, das zwischen eng gestellten Wänden aus Glas bald an Situationen im Labor erinnert, bald an die Endzeitstimmung nach einer Katastrophe, gehen in diesen Tanzhörspielen komplexe Beziehungen ein. Beide Ebenen entsprechen sich, indem sie zwischen Verdichtung und Zerstreuung pendeln, Gedanken zusammenkratzen, um Wahrnehmung ringen, Bewegungen bis zur szenischen Eindeutigkeit bringen und dann alles wieder aufstieben lassen und ins Nichts zerstreuen.
Dem Dock 11, Tanzschule, Bühne und Produzent der freien Szene, hat Martin Stiefermann auch ein Publikum gewonnen, das einerseits die Intimität der Bühne schätzt, wo sich die Fußspitzen von Zuschauern und Tänzern gelegentlich fast berühren, und andererseits den leichten Duktus. Einige der Choreografen, die jetzt zu der Geburtstagsparty von MS Schrittmacher mit eigenen Kunststücken im 103 anrücken, haben davon profitiert. Sie feiern ihn zu Recht als einen Wegbereiter für die Popularität des Tanzes.
KATRIN BETTINA MÜLLER
Party „X MS Schrittmacher“ im 103, 29. August, 22 Uhr, Falckensteinstr. 47
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen