Harmonie und Herrschaft

Hans-Ulrich Wehler hat seine monumentale „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ nach rund 20 Jahren zu Ende gebracht. Die Gesamtdarstellung umfasst in Band 5 die Jahre 1949–1990

VON CHRISTIAN SEMLER

Wie war zu Bonn es doch vordem …“ Angesichts der gegenwärtigen ökonomischen wie politischen Drangsale, denen die Berliner Republik ausgesetzt ist, neigt so mancher deutsche Zeitgenosse dazu, die 1990 dahingegangene Bonner Republik in mildem Abendlicht zu sehen. Vor dieser Versuchung sind auch Zeithistoriker nicht gefeit, wie der soeben erschienene fünfte Band der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ von Hans-Ulrich Wehler zeigt.

Wehler ist einer der Väter und Inspiratoren der modernen deutschen Sozialgeschichtsschreibung. Er hat dem Trend zur Abwertung der Sozialgeschichte, der „kulturalistischen Wende“ getrotzt und seine Gesellschaftsgeschichte mit diesem fünften Band bis zum Jahr der deutschen Einheit fortgeführt. Wer den Anmerkungsapparat dieses Werkes durchsieht, dem wird die Verarbeitungskapazität des Autors ebenso in Staunen versetzen wie die synthetisierende Energie, die in dem gut lesbaren Text selbst zu spüren ist. Dennoch begegnet dieser fünfte Band einigen grundsätzlichen Einwänden.

Wie in den vorhergehenden Bänden operiert Wehler mit den Max Weber entlehnten drei „Dimensionen“ von Wirtschaft, politischer Herrschaft und Kultur sowie der Kategorie der sozialen Ungleichheit als Überschneidungsprodukt. Er entwickelt nun die These, dass mit der Bundesrepublik erstmals seit dem Ersten Weltkrieg die restriktiven Bedingungen abgeworfen wurden, die der Entwicklung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft im Wege gestanden hätten. Wehler hebt zu Recht die lang anhaltende Nachkriegskonjunktur in Deutschland als stabilisierenden Faktor hervor, wobei er die unterschiedlichen Erklärungen hierfür einer instruktiven Analyse unterzieht. Er schildert die großen Sozialrefomen und -leistungen vom Lastenausgleich bis zur Rentenreform. Dabei unterlässt er es allerdings systematisch, die scharfen Klassenauseinandersetzungen zu erwähnen, die diesem Reformwerk vorangingen oder es begleiteten. In dieser harmonisierenden Betrachtungsweise erscheint selbst eine so stumpfe Waffe wie das Betriebsverfassungsgesetz, Produkt der Niederlage in den Arbeiterkämpfen, im positiven Licht. Das Gesetz war nach Wehlers Meinung (zusammen mit der Montanmitbestimmung) geeignet, „die organisierte Arbeiterschaft mit gesteigertem Selbstbewusstsein zu erfüllen“. Welche empirische Untersuchung erlaubt Wehler solche Einschätzungen?

Wehler betont jedoch die Existenz von Klassen und Klassenunterschieden während der ganzen Periode der „alten“ Bundesrepublik. Sein Klassenbegriff orientiert sich nicht an der Verfügung über das gesellschaftliche Mehrprodukt, basiert aber systematisch auf der Analyse der Machtverhältnisse und unterstreicht die Bedeutung der wachsenden Ungleichheit in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen. Allerdings haben diese Disparitäten in der alten Bundesrepublik seiner Meinung nach nie zu „Sozialneid“ geschweige denn zu konfrontativem Denken innerhalb der benachteiligten Klassen geführt. Wie er auch im politischen Bereich den erbitterten Streit um die Wiederaufrüstung, die allgemeine Wehrpflicht, die Integration in die Nato und die atomare Bewaffnung fast völlig übergeht. Einzufordern wäre demgegenüber die Beschäftigung mit einem Massenbewusstsein, das lange Zeit von dem antimilitaristischen „Nie wieder Krieg!“ geprägt war und sich erst unter dem Druck des Kalten Krieges wandelte.

Wenn vom Zustand der Gesellschaft unter der Kanzlerschaft Konrad Adenauers die Rede ist, wird man bei Wehler vergeblich nach einer Charakterisierung des dumpfen Autoritarismus suchen, dem Konformismus im Zeichen des Antikommunismus. Wenn überhaupt, ist von „Auswüchsen“ und „Exzessen“ die Rede. Und wo über Adenauer selbst gehandelt wird, geht er nur von seinem Politikstil aus, der dem Politikverständnis der Nachkriegsdeutschen seiner Meinung weit entgegenkam, da er „das Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung, nach Stabilität und glaubwürdigen Entscheidungen“ auffing. Dem Verständnis der Nachkriegsdeutschen?

Wo Wehler von Mentalitätsgeschichte spricht, spürt man den Versuch, das Bild des Leistungsdenkens und des Arbeitsethos als bestimmenden Faktor deutscher Tugenden hochzuhalten. Seine Erörterung des gesellschaftlichen Wertewandels in den 60er- und 70er-Jahren sieht den „Postmaterialismus“ als ein Durchgangsphänomen an, das sich bald wieder, dem ökonomischen Problemdruck folgend, verabschiedet hätte. Diese These widerspricht der empirischen Sozialforschung, wonach sich das Bewusstsein von der Zentralität der Erwerbsarbeit und postmoderne Haltungen keineswegs ausschließen. Die fortdauernde Existenz der Grünen ist Beweis hierfür.

Die Beschäftigung mit der Migrationsgeschichte in Deutschland ist rudimentär und von starken Vorurteilen geprägt. Zur Türkei meint Wehler, sie sei ein „muslimischer Staat“, der zudem „außerhalb Europas“ liege. Letztere Behauptung setzt er in Anführungsstriche. Die Migranten bilden seiner Meinung nach ein ethnisches Subproletariat, das „assimilations- und bildungsfern in seinen ghettoartigen Wohnquartieren, in denen der Einfluss des fundamentalen Islamismus um sich greift, den Aufenthalt in seiner abgeschotteten Subkultur der Integration vorzieht“. Zwar spricht Wehler sehr allgemein vom Versagen der Integrationspolitik, aber über die konkrete Politik gegenüber den Migranten und das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den „Gastarbeitern“ wird man bei ihm nichts finden. Fremdenhass in der alten Bundesrepublik? Allerhöchstens ein Randphänomen.

Zu der Studentenbewegung der 68er fällt Wehler erwartungsgemäß nicht viel Positives ein. Richtigerweise ordnet er die Revolte in eine generelle Aufbruchsstimmung der 60er-Jahre ein. Seine Kritik an der Abstraktheit vieler Forderungen, an der falschen Vorstellung politischer Unmittelbarkeit, an dem ambivalenten Verhältnis zur Gewalt ist bissig, manchmal sogar amüsant. Aber Wehler übersieht die Hauptsache: dass erst die Studentenbewegung selbstbestimmtes kollektives Handeln ermöglicht hatte, worauf der spätere zivilgesellschaftliche Protest aufbauen konnte. Wo Wehler nur die Heiligsprechung der Dritten-Welt-Revolutionäre sieht, legte die Studentenbewegung ein Fundament moralisch inspirierten internationalistischen Handelns, dessen Wirkungen bis heute – etwa bei Attac – spürbar sind.

Die DDR erfährt nur eine stiefmütterliche Berücksichtigung. Wehler zeichnet in großen Zügen die politischen und ökonomischen Gründe ihres Scheiterns nach und arbeitet das grundsätzliche Legitimitätsdefizit der Realsozialisten heraus. Wenig hingegen ist zu erfahren über die Lebenswelt der DDR-Bürger, darüber, wie sie sich in der DDR einrichteten und gegenüber den Zumutungen der SED-Diktatur oftmals behaupteten.

Zum Kapitel über die Kultur abschließend nur ein überraschendes Detail: Anlässlich seiner Medienanalyse kennzeichnet Wehler die FAZ als „linkskonservatives“ Blatt.

Hans-Ulrich Wehler: „Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990“. C. H. Beck, München 2008, 529 Seiten, 34,90 Euro