Anwesendes und Abgelegtes

Bei Katharina Geiser halten Erzählerinnen Zwiesprache mit dem Kind, das sie waren

Es gibt eine große Frage, die die Schweizerin Katharina Geiser fasziniert und umtreibt: Wie verhält sich die Vergangenheit zur Gegenwart? „Das Vergangene treibt Luftwurzeln in die Gegenwart“, heißt es in einer der Erzählungen ihres zweiten Buches, und der Satz könnte ihm als Motto vorangestellt sein. Von sehr unterschiedlicher Qualität ist, wie die 52-jährige Autorin dieses Motto umsetzt.

Die Erinnerung ist in vielen der Erzählungen die treibende Kraft, und oft führt sie in die Kindheit. Immer sind es Unscheinbarkeiten, auf die sich Geisers Blick richtet. Sinnliche Eindrücke, wie die Berührung eines Kleiderstoffs, das Abperlen des Seewassers auf der Haut nach dem sommerlichen Bad. Die erwachsenen Erzählerinnen halten Zwiesprache mit dem Kind, das sie waren. Dabei entstehen feine Beobachtungen, die Autorin schöpft sprachlich aus dem Vollen – doch ist es der Finessen manchmal zu viel. Weil sich dahinter nichts öffnet, sich Geiser damit begnügt, das sonst Unbeachtete kunstvoll zu beschreiben. Etwas gewollt wirken auch die Liebesgeschichten in dem Band. Verrätselungen, die zu oft nicht mehr als das Vergnügen der Autorin an ihnen vermitteln.

Aber: Katharina Geiser kann auch anders! Wenn sie sich historischen Persönlichkeiten, ausschließlich Frauen, nähert, entwickeln ihre Texte eine ganz andere Intensität und Dichte; eine Dringlichkeit, angelegt in den Charakteren der von ihr ausgewählten Frauen. Diese spekulative Annäherung, ja Einfühlung, ist nicht ohne Risiko. Leicht entgleitet der Ton in anbiedernde, vereinnahmende Vertrautheit. Insbesondere im Genre der Biografie haben sich schon manche darin verheddert. Nun schreibt Geiser Erzählungen, arbeitet dabei aber mit historischem Material und Wissen – wie in der Geschichte „Die Zitrone in der rechten“, wo sie die kurze Zeit Paula Modersohn-Beckers in Paris umkreist. Doch meist gelingt ihr die Wanderung auf schmalem Grat.

Auch hier zählen die sinnlichen Details, doch sind sie nicht Selbstzweck, sondern spiegeln Stimmungen, erzeugen Atmosphären, wie die Sonne 1906 in Paris: „Trotzdem hat sie ein Verhältnis zur Sonne, die auch im winterlichen Paris brütet und die Dinge schwerer macht und grau und alle in dieser grauen Schwere verbindet, bis sie zuletzt ein Einziges sind.“ In den Text sind kursiv Zitate aus Briefen Paula Modersohn-Beckers eingefügt. Historisch Belegbares und feinfühlige Spekulation schaffen eine Art literarisches Porträt. Es zeigt, auf wenigen Seiten verdichtet, die Künstlerin, die sich von Familie und Ehemann abnabelt. Es betont die Selbstbehauptung und die Suche nach künstlerischer Inspiration. „Sie will kein Guckfenster aus einem leblosen Körper haben.“

Geiser lässt Paula Modersohn-Becker in den Louvre gehen, um dort intensiv das Mumienporträt einer Ägypterin zu betrachten: „Paula erregt das Gefühl des Ineinander- und Übereinanderschiebens der Dinge, Anwesendes und Abgelegtes verlangen ebenbürtige Aufmerksamkeit.“ Tatsächlich weisen Porträts der Künstlerin große Parallelen zu solch alten Bildnissen auf. Die geschilderten Empfindungen sind literarische Fiktion, zielen auf das Hauptmotiv Geisers – und fügen sich stimmig in die erzählerische Annäherung an ein fremdes Leben.

Die stärkste Erzählung trägt den wunderschönen Titel „Von unseren Begegnungen ist mir jede die liebste“ – ein Briefzitat: Ariadna Efron, Tochter von Marina Zwetajewa, schrieb diese Zeile an Boris Pasternak. Der Briefwechsel mit ihm war ihr Lebenselixier in der sibirischen Verbannung, in die sie 1949 gezwungen wurde. „Der Schnee fällt und legt sich als Panzer über einen Flecken Welt, den niemand erfunden haben möchte. Demnach überfällt einen die Pein des absoluten Weiß“, so Geisers Worte. Sie umkreist die Frage, wie eine überleben, ihren Geist lebendig halten kann, wenn alles, was ihr Leben bislang ausmachte, brutal negiert wird. Stupide Arbeit bis zur totalen Erschöpfung, wenig Schlaf, die Kälte, elende Wohnverhältnisse. Ariadna Efron schreibt an Pasternak: „Die Zähne müssen zusammengepresst werden, damit das Herz nicht herausspritzt.“

Geiser geht zurück in die Kindheit Ariadnas, imaginiert Szenen mit der berühmten Mutter. Erzählt Kindheit und Jugend ihrer Protagonistin und fragt, wie sich Erinnerungen verändern angesichts der kaum zu ertragenden Gegenwart. Hier gelingt es wieder auf Schönste: die Verflechtung von historisch Belegbarem und literarischer Spekulation. Ein Leben, das sich auf wenigen Seiten entfaltet – ein dunkel funkelndes, poetisches Porträt. CAROLA EBELING

Katharina Geiser: „Rosa ist rosa“. Ammann Verlag, Zürich 2008, 220 Seiten, 18,90 Euro