Die Beethoven-Versteher

Der „zweifellos beste Beethoven der Welt“ kommt aus Bremen, meinen die Kollegen vom „Yomiuri Newspaper“. Auch vor Ort kann man feststellen: Der Sound der hiesigen Kammerphilharmonie ist gut – sehr gut

VON HENNING BLEYL

Zweimal zucken Järvis Schultern, dann geht es los: „Leonore“, die Beethoven-Ouvertüre, strömt unter dem Dirigat des Esten aus den Instrumenten der Deutschen Kammerphilharmonie. 1980 wurde sie von MusikstudentInnen gegründet, 1992 zog sie nach Bremen. Paavo Järvi ist ihr künstlerischer Leiter.

Die anfängliche Lockerungsübung, eigentlich ein persönliches warm up, lässt sich durchaus zum symbolischen Akt deklarieren – es kennzeichnet eine musikalische Grundhaltung: Elastisches aufeinander Reagieren, das unter anderem durch regelmäßiges, dirigatfreies Musizieren geübt wird.

Vor Beginn von Beethovens „Neunter“ zucken Järvis Schultern gleich viermal. Die „Neunte“ kammermusikalisch!? Ein Werk, das sich zur heroisierenden Vereinnahmung ebenso eignet wie zur politischen Allzweckhymne – bei der man den „schönen Götterfunken“ „Freude“ einfach mal, wie nach dem Mauerfall, durch „Freiheit“ ersetzt? Der auf der „Neunten“ lagernde historische Ballast ist enorm, das musikalische Hauptthema längst offizielle Europa-Hymne. Immerhin die Hälfte aller EU-EinwohnerInnen kann sich von „Alle Menschen werden Brüder“ ja angesprochen fühlen.

Doch vor dem finalen Chorsatz ist in der restlos ausverkauften „Glocke“ ein Klangreichtum sondergleichen zu erleben. Die Kammerphilharmonie verzichtet zwar auf historische Hörner und hölzerne Flöten, produziert mit ihren potenteren modernen Instrumenten jedoch nichtsdestoweniger jenen leichtfüßigen Sound, der ihr 2007 den Jahrespreis der Deutschen Schallplatten-Kritik einbrachte.

Vergangenes Jahr begeisterte sich sogar das New Yorker Publikum für die Bremer Beethoven-Exegese. Die japanischen Musikkritiker wählten sie mehrmals unter die Top Five der Musikereignisse in Fernost. Was ist davon im heimischen Konzertsaal zu hören? Da ist vor allem diese beglückende Fähigkeit, bei einem Crescendo Volumen zu fassen, ohne gleichzeitig schwer zu werden. Die Dichte des durch viele kleine Töne geschaffenen Klangnetzes. Angesichts solcher orchestraler Qualität kann man sich den Luxus der Beckmesserei leisten: Järvis Agogik wirkt gelegentlich allzu zügig, als wolle er der Übermacht eingefahrener Klangspuren entwischen.

Genial hingegen, wie er das erstmalige Auftauchen des „Götterfunken“-Themas in den Celli und Bässen wie einen bedrohlichen Hornissenschwarm brummeln lässt – anstatt ihn vorauseilend hymnisch zu überhöhen. Die schmetternde „Freude“ kommt ja noch früh genug, zumal der „Deutsche Kammerchor“ die Transparenz des Orchesters vermissen lässt: Singt er laut, hört man vor allem Masse. Um Plastizität zu erreichen, also die Binnenstrukturen herauszuarbeiten, bräuchte es stärkere Mittelstimmen, auch der Bass ist eher schwach. Was bleibt? Ein anständiger Sopran.

Das ist, vokal gesehen, dann doch zu wenig für den „zweifellos weltbesten Beethoven der Welt“, wie das Yomiuri Newspaper schrieb. Albert Schmitt, ursprünglich Kontrabassist, jetzt Geschäftsführer des selbstständigen „Unternehmer-Orchesters“, diagnostiziert eine produktive „Enkel-Situation“. In der Tat ist nach den Beethoven-Vereinnahmungen erst durch Karajan und dann den Protagonisten der „Historischen Aufführungspraxis“ wie Gardiner und Norrington nun Raum für eine weniger ideologische Beethoven-Betrachtung. Die Kammerphilharmoniker füllen ihn gewaltig.