Wenn ich ein Vöglein wär’

Besuch von der Meise

„Tschirp!“, tönt es aus meinem Arbeitszimmer. Das Zwitschern hier klingt nicht nach dem vorsommerlichen Lustgesang einer Meise oder dem Morgenchor der Amseln und Drosseln aus der Hasenheide. Dieses Tschirpen klingt eher nach einem Hilferuf. Schrill und voller Panik. Ich stehe im Zimmer und drehe mich um meine Achse. Wo würde ich mich hinsetzten, wenn ich ein Vogel wäre? „Wenn ich ein Vöglein wär’ und auch zwei Flügel hätt’ …“, geht es mir durch den Kopf. Ich wedle wild mit den Armen.

„Wo bist du?“, rufe ich laut. In meinem Kopf geht es weiter: „… flög’ ich zu dir.“ Ich wedle weiter mit den Armen, jetzt aber wie mit zwei Flügeln. Auf und ab. In meinem Augenwinkel entdecke ich den Vogel. Er hat sich bewegt. Er sitzt auf dem Regal und hat den Kopf auf die Seite gelegt. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, und er flattert Richtung Fenster. Er ist noch ganz klein. Ein Meisenteenager. „Achtung!“, rufe ich, und er fliegt gegen den Fensterrahmen. „Tschirp“, macht er auf der Fensterbank sitzend. Vorsichtig komme ich näher. Ich will ihn dazu bewegen, aus dem Fenster zu fliegen, aber ich will ihn auch nicht erschrecken. Kurz bevor ich ihn erreiche, schwingt er sich in die Luft und ist verschwunden. Aus dem Fenster ist er nicht geflogen. „Tschirp“, macht es unter meinem linken Ellenbogen, „tschirp.“ Die adoleszente Meise hat sich auf meinem Speckring niedergelassen. Sie ist so leicht, dass ich sie nicht bemerkt habe.

Jetzt aber, wo ich weiß, dass sie da sitzt, kann ich ihre kleinen Klauen spüren. Ich wackle ein bisschen mit den Hüften. Die Meise bleibt sitzen. Als ich mutig nach ihr greifen will, fliegt sie einfach aus dem Fenster in die Hasenheide. Mein Speckring bebt ein wenig. „Ade, gefiederter Freund“, rufe ich der kleinen Meise leise nach. MAREIKE BARMEYER