berliner szenen Am Glienicker See

Intakte Reflexe

Ich hab meine alte Schlabberjogginghose wieder ausgegraben. Sie ist nicht sonderlich hübsch, aber bequem. Eine Art Sack, gelb-rot gestreift – meint meine Frau. Aber ich habe Lust, sie aus nostalgischen Gründen mal wieder zu tragen zum Radfahren raus zum Glienicker See.

Ich bin kaum am Uferweg angekommen, da höre ich hinter mir Geräusche. Eine Art Keuchen. Und Bellen. Und schnelle Pfoten auf Kies. Ich weiß nicht, welcher Teil des menschlichen Gehirns für solche Situationen zuständig ist, jedenfalls scheint diese Region bei mir völlig intakt. Reflexartig lasse ich das Rad fallen, springe ins Wasser und kraule los. Erst als das Bellen leiser wird und dann verstummt, schwimme ich langsam wieder ans Ufer zurück. Der Köter scheint weg zu sein.

Triefend fahre ich weiter. Nach wenigen Metern höre ich direkt neben dem Weg plötzlich Geräusche. Kaum dass ich mich versehe, springt eine Horde Kinder hervor und johlt: „Ein Clown auf’m Fahrrad! Ein Clown auf’m Fahrrad!“ Sie können kaum aufhören damit. Ein Junge mit einem Kassettenrekorder auf der Schulter zwinkert mir zu. In Nullkommanichts wird es mucksmäuschenstill in der Gruppe. Grinsend drückt der Knirps eine der Tasten, woraufhin ein Keuchen zu hören ist. Und Bellen. Und schnelle Pfoten auf Kies.

Dem Clown wird kalt und heiß. Er sitzt auf seinem Fahrrad, und für den Bruchteil einer Sekunde ist er orientierungslos. Er weiß nicht, welcher Teil des Gehirns für solche Situationen zuständig ist, aber auch diese Region scheint intakt. Und deshalb sagt er, ohne sich etwas anmerken zu lassen: „Hab ich irgendwann schon mal gehört.“ Dann umfasst er den Lenker, richtet anmutig seinen Oberkörper auf und radelt davon. JOCHEN WEEBER