Dieses Berliner Driften

Einfachheit, Hippie-Werte: Bei Bands wie Sorry Gilberto ist das wieder voll okay. Überhaupt, ist der in der billigen Hauptstadt gestrandete New Urban Folk Underground nicht das aktuelle große Ding?

VON ANDREAS HARTMANN

Die Zeiten, in denen der Popstandort Berlin so richtig laut war, sind seit ein paar Jahren vorüber. Laut war man zu der Hoch-Zeit des Berliner Labels Kitty Yo, als die Hauptstadt sich selbst neu entwarf mit Hilfe von meist elektronischer Popmusik, die überall in der Welt als hip galt. Inzwischen sind nur noch Aggro-Rapper aus Marzahn, Feierengländer in Friedrichshain und Ravespanier in der Schlange vor dem Berghain laut. Die Popszene hat sich verflüchtigt, atomisiert, Kitty Yo gibt es nur noch online und ähnlich gelagerte Labels sind nur noch damit beschäftigt, einigermaßen den Betrieb aufrechtzuerhalten. Ein paar wenige große Bands wie die Ärzte oder die Beatsteaks landen vorne in den Charts, alle anderen sind froh, wenn sie ein paar Freunde bei Myspace finden.

Und trotzdem tummelt sich eine riesige Underground-Szene in der Stadt, nur unterhalb des medialen Hype-Radars. Sogar zu einem Kinofilm hat das Treiben einer internationalen, sich im billigen Berlin gefundenen Szene angeregt, zum eben angelaufenen „Berlin Song“. Von einem „New Urban Folk Underground“ ist hier die Rede, von melancholisch dreinblickenden Singer-Songwritern mit der Gitarre in der Hand. Man würde einfach auch Anti-Folk dazu sagen, wenn der Begriff nicht durch den Erfolg von Adam Green seiner Unschuld beraubt worden wäre.

Jakob Dobers sagt dennoch manchmal „Antifolk“, um das zu beschreiben, was er mit seiner Band Sorry Gilberto macht, die er zusammen mit Anne von Keller betreibt. Ganz selbstverständlich spricht er von einer Berliner Antifolkszene, deren Zentrum sich inzwischen wohl von New York nach Berlin verlagert hat. Antifolk ist eine Musik der Bohemians und Bohemian kann man längst besser im billigen Berlin als in Manhattan sein. Die Musiker kommen aus England, den USA oder Norwegen, sie wohnen hier, vielleicht aber auch noch woanders, und ob Berlin was für länger ist, das ist auch noch nicht klar. Auch bei Sorry Gilberto spürt man diese Zerrissenheit, dieses Gefühl eines Driftens. Es geht immer ums Reisen, um Flucht, Bewegung. „When the Beatles went to India“ heißt ein Song auf ihrer eben erschienenen, ersten Platte „Memory Oh“, „Neil Young (on an aeroplane)“ ein anderer. Im „Oslo Song“ sieht man das Duo am Straßenrand, trampend mit einem „Oslo“-Pappkarton in den Händen. Der Geist der amerikanischen Hobos, er scheint auch in Kreuzberg angekommen zu sein.

Das Erstaunliche ist, dass Sorry Gilberto längst in Oslo gespielt haben, auch in Frankreich sind sie aufgetreten, „oft im privaten Rahmen“, erzählt Anne von Keller und schwärmt von einem Auftritt in Paris, der einen ähnlichen Charakter gehabt haben muss wie diese sogenannten Wohnzimmerkonzerte, als es das noch verstärkt in Berlin gab, wobei diese, so Jakob Dobers, auch in Berlin langsam wieder zurückkommen würden. In Zeiten der Gentrifizierung ist das Private wieder eine Alternative.

Für eine Band ohne Plattenvertrag wären Touren im Ausland früher kaum denkbar gewesen, heute hat sich jedoch eine Antifolk-Szene international via Internet und Myspace vernetzt und man lädt sich gegenseitig ein. Da alles eher auf Fantum-Basis stattfindet, bleibt das meiste Geld auch bei den Bands hängen, ein klein wenig, so Sorry Gilberto, würde man also sogar verdienen bei diesen Auftritten. Auch weil alles wieder persönlich läuft, gepennt wird beispielsweise beim Veranstalter auf der Couch, bestätigt Anne von Keller. Verwüstete Hotelzimmer, wie sie früher im Rock und in besseren Zeiten der Musikindustrie einmal verlangt wurden, sind im Antifolk allein schon durch die Umstände gar nicht mehr drin.

Freundschaft, Ehrlichkeit, solche Hippie-Werte gelten im Berliner Antifolk wieder was. Die Leute, die das junge Sorry-Gilberto-Label Goldrausch betreiben, sind natürlich Freunde der Band; Noel Rademacher, mit dem man auf Skandinavien-Tour war und der selbst in diversen Bands spielt: ein Freund. Nach Nirvana wurde aus „Independent“ samt seinem Ideal eines vom reinen Geldverdienen befreiten Musikmachens auch nur ein anderes Wort fürs große Geschäft, der Berliner Antifolk scheint nun dagegen „Indie“ wieder auf seinen Ursprungsgedanken runterzubrechen.

Einfachheit ist hier wieder okay, auch in der Musik. Die Songs von Sorry Gilberto sind spartanisch instrumentiert, Anne spielt eigentlich Bass, aber auch eine italienische Flohmarktorgel – und Blockflöte. Im „Oslo Song“ gibt es richtiggehend ein Solo von ihr. Jakob spielt Gitarre und Ukulele, beide singen, oft zusammen, seine tiefe Stimme erdet ihre hohe. Lee Hazlewood und Nancy Sinatra fallen einem ein, aber auch die Moldy Peaches, diese hübsche Band, in der Adam Green mit dabei war, bevor er Deutschlands neuer David Hasselhoff wurde. Die Musik von Sorry Gilberto ist direkt, melancholisch, zart.

Man hat das Gefühl, Sorry Gilberto und der Berliner Antifolk sind ein leises Aufbäumen gegen die drohenden und bereits spürbaren Umwälzungen in dieser Stadt. Inzwischen ist selbst der „Schokoladen“, einer der Szenetreffs in Mitte, von der Gentrifizierung bedroht, und wer weiß, wie lange es eine halblegale Örtlichkeit wie das „Westgermany“ in Kreuzberg noch geben wird. Wütend sein, auf die Straße gehen, Protestsongs schreiben gegen Media-Spree und die Loftisierung der Stadt, was bringt das noch? Sorry Gilberto und die anderen suchen den Weg in die Innerlichkeit, als Bewegung ist das vielleicht sogar weniger eskapistisch, als man erst mal annehmen könnte.

Wir sitzen gerade im „San Remo“. Plötzlich fängt die riesige „O2 World“ zu blinken an wie verrückt, die riesige Arena sieht aus wie ein Ufo. „Das habe ich so auch noch nicht gesehen“, sagt Anne. „Zur Eröffnung soll es eine Demo geben“, weiß Jakob. Ein bisschen spät, fällt uns allen auf.

Sorry Gilberto: „Memory Oh“ (Goldrausch). Record-Release-Konzert: 6. 9. im L.U.X, ab 21 Uhr