Verlust der Herzen

Novak Djokovic zieht ins Halbfinale der US Open ein. Teile des Publikums finden das gar nicht gut und pfeifen den Serben aus. Der weiß nicht recht, warum er plötzlich zum Buhmann geworden ist

AUS NEW YORK DORIS HENKEL

Vor genau einem Jahr lagen New Yorks Tennisfans Novak Djokovic zu Füßen. Nach einem Sieg im Viertelfinale präsentierte er, animiert vom Reporter des Fernsehsenders „usa“, Michael Barkann, seine im kleinen Kreis längst berühmten Parodien der Damen und Herren Kollegen. Die Leute brüllten vor Lachen, und danach war überall zu hören und zu lesen, was für ein unglaublich witziger, spritziger, begabter Kerl er sei. Nach dem Finale, das er gegen Roger Federer verlor, rief ihm die Präsidentin des Amerikanischen Tennis-Verbandes, Jane Brown Grimes, bei der Siegerehrung zu: „Novak, du magst das Spiel nicht gewonnen haben, aber unsere Herzen.“ Und das Volk stimmte Sprechchöre an.

Am Donnerstag gewann Novak Djokovic wieder ein Viertelfinalspiel bei den US Open, diesmal gegen Andy Roddick, und wieder stand er hinterher mit Barkann beim Interview auf dem Platz. Aber diesmal buhten die Leute. „Sie sind gegen mich, weil sie denken, dass ich Verletzungen vortäusche“, klagte Djokovic übers Platzmikrofon. Und selbst als Barkann bat, den Sieger des Abends mit Beifall zu verabschieden, waren weitere Buhs nicht zu überhören. Um das verstehen zu können, muss man die Vorgeschichte kennen. Der Spanier Tommy Robredo, den der junge Serbe in einem beinharten Fünfsatzspiel im Achtelfinale besiegt hatte, sagte hinterher, es sei schon merkwürdig mit Djokovic. Der werde in einem Moment noch behandelt, im nächsten laufe er schon wieder, als sei nichts geschehen. Und Andy Roddick spielte den Ball weiter. Aus der Antwort auf die Frage nach den vielfältigen Verletzungen des nächsten Gegners machte er eine Kabarettnummer; das Vergnügen gönnt er sich gern und oft.

Er fantasierte darüber, was Djokovic neben Beschwerden im rechten und linken Knöchel und an der Hüfte noch fehlen könnte. Und zählte auf: Krämpfe. Vogelgrippe. Anthrax. Sars. Husten und Erkältung. Beim Versuch, ihn zu einer ernsthaften Aussage darüber zu bewegen, ob er Djokovic Bluff bei den Auszeiten während des Spiels unterstelle, wand er sich und sagte dann: „Nein, wenn er was hat, dann hat er was. Es ist einfach nur ziemlich viel. Entweder ist er schnell dabei, den Physio zu rufen, oder er ist der tapferste Kerl, den es gibt.“

Als Djokovic am nächsten Tag davon hörte, fand er das kein bisschen komisch. Wer lässt sich schon gern nachsagen, zumal auf seinem Niveau, er spiele falsch, um sich einen Vorteil beim Gewinnen zu verschaffen? Nach dem Sieg gegen Roddick, mit dem er sich für das Halbfinale am Samstag gegen Roger Federer qualifizierte, waren die Kontrahenten um Schadensbegrenzung bemüht. Roddick versicherte, er mache doch bekanntlich andauernd Witze, alles sei nur Spaß gewesen. „Er hat das offenbar ernst genommen, tut mir leid. Aber ich denke, wenn du dich über andere Leute lustig machst und sie imitierst, dann solltest du so was einstecken können.“ Auch Djokovic lenkte ein. „Andy hat einen Scherz gemacht, und es war ein Missverständnis, er hat keine Schuld. Darauf hab ich auf dem Platz (im Interview) reagiert – vielleicht hab ich dabei übertrieben. Falls es so sein sollte, entschuldige ich mich, aber es war einfach eine impulsive Reaktion.“ Beide berichteten, sie hätten sich bereits in der Kabine ausgesprochen, aber der Inhalt des Gesprächs gehe keinen was an.

Alles in Ordnung also? Sturm im Wasserglas eingeschlafen? Nicht ganz. Denn es ist nicht zu übersehen, dass sich Novak Djokovic in seiner Haut nicht annähernd so wohl fühlt wie vor einem Jahr. Die Parodien gibt er längst nicht mehr zum Besten, weil es offenbar Kollegen gibt, die sich veralbert fühlen.

Da muss es ihm sehr merkwürdig in den Ohren geklungen haben, als er bei der Rückkehr nach New York fast nur auf seine Auftritte vom vergangenen Jahr angesprochen wurde und sich in der großen Stadt offenbar kaum einer dafür interessiert, was er als Spieler zu bieten hat. Der Geheimrat Goethe lässt grüßen: Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los. Aber es ist noch ein Missverständnis im Spiel. Nach der Partie gegen Robredo hatte er sich darüber beklagt, das Publikum sei ja mehr auf Seiten des Spaniers gewesen, und war bei der Suche nach den Gründen zum simplen Schluss gekommen: „Vielleicht mögen sie mich ja nicht mehr.“

Ein Fall von Liebesentzug? Die Erklärung ist ganz einfach. Das New Yorker Tennispublikum feuert immer den Underdog, den Unterlegenen, an, weil es süchtig nach Sensationen ist. Oder nach Darstellern mit bühnenreifen Fähigkeiten. Aber aus der einen Rolle ist Novak Djokovic längst rausgewachsen, und in die andere will er nicht mehr rein.