„Wir müssen die Rückschritte sehen“

Die weltweite Armut nimmt ab, schreibt die Weltbank. „Zu simpel“, sagt Globalisierungskritiker Peter Wahl, „in Indien und anderen Regionen steigt die Zahl der Armen“. Zudem gehe der Rückgang der Armut auf den Wirtschaftserfolg Chinas zurück

PETER WAHL, 60, war Mitgründer von Attac in Deutschland. 2007 zog er sich aus der Spitze zurück; er arbeitet bei der Entwicklungsorganisation WEED.

INTERVIEW HANNES KOCH

taz: Herr Wahl, die weltweite Armut ist seit 1981 zurückgegangen. Die Globalisierungskritiker behaupten das Gegenteil. Ist eine Ihrer zentralen Thesen damit widerlegt?

Nein. Auch der neue Bericht der Weltbank, auf den Sie anspielen, sagt, dass die Armut in den meisten Regionen der Welt zwischen 1981 und 2005 zugenommen hat. Außerdem musste die Bank ihre alten Armutsstatistiken nach oben korrigieren. Bei der absoluten Armut, also dort wo Armut zur Bedrohung von Leib und Leben wird, um 400 Millionen Menschen.

Die Zahl der Menschen, die unter absoluter Armut leiden, ist zwischen 1981 und 2005 von 1,9 Milliarden auf 1,4 Milliarden gesunken – trotz wachsender Weltbevölkerung. Ist das kein Erfolg?

Sie müssen genau hinsehen. Der Erfolg hat hauptsächlich in China stattgefunden. Dort sind 600 Millionen Menschen aus der ärgsten Not herausgekommen. Rechnet man China aber heraus, ist die absolute Armut sogar gestiegen. Und wer gerade über der absoluten Armutsgrenze liegt, dem geht es noch lange nicht gut. Die Anzahl der Armen insgesamt beziffert die Weltbank auf 3,1 Milliarden. Daran gibt es nichts zu beschönigen.

China ist keine Ausnahme – auch in anderen Ländern Asiens hungern weniger Menschen als vor 25 Jahren.

Sie ignorieren die Gegenbeispiele, die Rückschritte. In Indien etwa ist die Zahl der Armen absolut gestiegen, nicht gesunken. Dort leben jetzt 455 Millionen Menschen von weniger als 1,25 Dollar pro Tag. 1981 waren es 420 Millionen. Auch in Zentralasien und Lateinamerika nimmt die Zahl der Armen nicht ab, ganz zu schweigen von Afrika südlich der Sahara.

Aber die Bevölkerung Indiens ist massiv gewachsen. Deshalb ist der relative Anteil der Armen unter dem Strich gesunken.

Das stellen wir nicht in Frage. Auch im Nahen Osten und Teilen Lateinamerikas geht es vielen Menschen besser als früher. Trotzdem ist es undifferenziert, von globalem Fortschritt zu sprechen. Afrika südlich der Sahara ist viel schlechter dran als früher. Noch immer lebt die Hälfte der Bevölkerung dort in tiefster Armut. Die neoliberalen Wirtschafts- und Entwicklungsrezepte haben daran nichts geändert. Im Gegenteil, sie verschärfen die Armut.

Sie haben den Neoliberalismus immer bekämpft. Räumen Sie ein, dass er auch seine guten Seiten hat?

Nein. Die Erfolge in China und anderen Regionen haben mit dem Neoliberalismus, mit wahlloser Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung nichts zu tun.

Der Kapitalismus hat in China dazu beigetragen, dass Hunderte Millionen Menschen Fleisch statt Reis essen und sich eine Wohnung leisten können.

China und auch Indien praktizieren eine spezielle Variante des Kapitalismus, ein Modell mit viel staatlicher Lenkung. Das unterscheidet sich sehr vom neoliberalen Glauben, der Markt würde alles richten. Die Öffnung zum Weltmarkt findet nur selektiv und planvoll statt.

Die meisten westlichen Konzerne produzieren in China.

Kürzlich hat die Weltbank ihre neue Studie zur globalen Entwicklung vorgelegt. Die zentrale These: Die Zahl der absolut Armen, die weniger als 1,25 US-Dollar pro Tage zur Verfügung haben, ist zwischen 1981 und 2005 von 1,9 Milliarden Menschen auf 1,4 Milliarden gesunken. Während zu Beginn der 1980er-Jahre 45 Prozent der Weltbevölkerung bitterarm waren, sind es heute noch 22 Prozent. Dennoch geht die Armut weltweit langsamer zurück als erhofft. Nähme die Armut weiter im gleichen Tempo ab wie bisher, würden im Jahr 2015 immer noch eine Milliarde Menschen von weniger als 1,25 Dollar am Tag leben. Besonders dramatisch ist die Lage im südlichen Afrika.

Aber der chinesische Finanzsektor ist ausländischen Unternehmen weitgehend verschlossen. Ähnliches gilt für den Agrarmarkt und andere Bereiche. Erst wenn die eigenen Unternehmen stark genug sind, lässt die Regierung ausländische Konkurrenz zu.

China öffnet sich zwar langsam. Aber Kapitalismus bleibt doch Kapitalismus.

Diese Betrachtung ist zu schlicht, wie wir ja auch am Unterschied zwischen rheinischem Kapitalismus und dem jetzt dominanten neoliberalen Modell sehen. China setzt zuerst auf die innere Entwicklung und dann auf Weltmarktintegration. Und die Politik lenkt den Markt. Das ist ein anderes Modell, als es Weltbank und Währungsfonds jahrzehntelang gepredigt haben.

Die neoliberale Globalisierung ist in Ihren Augen ein Übel, der Kapitalismus an sich aber gar nicht so schlecht?

Der Markt ist viel älter als der Kapitalismus. Er kann durchaus zu Wohlstand für alle beitragen. Aber nur unter einer Bedingung: Der politische Rahmen muss stimmen, der Markt muss reguliert sein. Der unregulierte Markt ist Kampf aller gegen alle, die Schwachen gehen dann unter.