Wie Pete Doherty und Courtney Love

Am Thalia Theater startet die letzte Saison unter dem großen Intendanten Ulrich Khuon. Sie schlägt keine großen Haken, hat aber auch mit Austrudeln nichts zu tun. Noch ist man hundert Prozent da. Auch wenn in Dimiter Gotscheffs Version von Büchners „Leonce und Lena“ die Schlafsäcke ausgerollt sind

Ulrich Khuon: „Mein Ziel ist immer Vertiefung. Auch Regisseure, die bereits 50-mal inszeniert haben, setzen mit jeder Arbeit neu an“

von SIMONE KAEMPF

Der Spielplan erzählt wenig vom Abschied. 17 Premieren sind für die nächsten Monate angekündigt, Schlag auf Schlag bis in den Frühling. Gespielt wird zwar bis Juli, aber bereits im März 2009 läuft die letzte Neuproduktion – das einzige Zeichen, das auf den Wechsel am erfolgreichsten Theater Hamburgs, ja wenn nicht gar der Republik, hinweist.

Für Intendant Ulrich Khuon, seine RegisseurInnen und das Schauspielensemble ist an diesem Wochenende die letzte Spielzeit angebrochen, bevor Joachim Lux 2009 die Nachfolge übernimmt. Seitdem das Thalia Theater unter Khuons Leitung in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ erstmals mit überwältigender Mehrheit zum Theater des Jahres gewählt, verging kaum ein Jahr, in dem man nicht mit einer Einladung um Theatertreffen oder anderen Preisen ausgezeichnet wurde.

Der Erfolg kam nicht über Nacht. Vielmehr ist er das Ergebnis eines kontinuierlichen Arbeitens und eines beharrlichen Reifeprozesses. Mit moderaten Experimenten, aber mit genügend ästhetischer Risikofreude, um nur ja nie der Routine zu verfallen. Und mit dem Intendanten Khuon an der Spitze, der als nicht-inszenierender Leiter den künstlerischen Ambitionen seiner Regisseure den Rücken freihalten konnte – eine erfolgreiche Strategie, die der Intendant nicht erfunden, aber entscheidend mitgeprägt hat.

Wenn man auf gepackten Koffern sitzt, hat man da überhaupt noch Ziele? „Mein Ziel ist immer Vertiefung. Auch Regisseure, die bereits 50-mal inszeniert haben, setzen mit jeder Arbeit neu an. Jede Begegnung ist ein neues Ziel.“ So umschreibt Khuon die Situation vor seiner letzten Spielzeit, die keine großen Haken schlägt, aber auch mit Austrudeln nichts zu tun hat.

Man hat sich genügend vorgenommen. Die fest mit dem Haus verbundenen Regisseure Stephan Kimmig, Andreas Kriegenburg, Armin Petras, Michael Thalheimer inszenieren. Der jüngere David Bösch arbeitet erstmals im Großen Haus und nicht in der Gaußstraße, wo Nuran David Calis, Jorinde Dröse oder Friederike Heller wirken werden. Auf jeden Fall ein durchdachter Spielplan, mit neuen Stoff-Akteur-Themen-Konstellationen, gespeist von der wiedererkennbaren hauseigenen Energie.

Dass man bis zum Ende hundertprozentig da sein will, signalisiert jedenfalls auch die Eröffnungspremiere. Dimiter Gotscheff hat Georg Büchners „Leonce und Lena“ mit einem schlüssigen, wenn auch nicht aufgehenden Zugriff inszeniert, an dem Bühnenbildnerin Katrin Brack einmal mehr großen Anteil hat. Zwischen sehr vielen bunten Schlafsäcken bewegen sich die Herrschenden und der Herrschernachwuchs, der vermählt werden soll. In den Schlafsäcken schläft das Volk, windet sich ab und an wie Raupen in Kokons kurz vorm Schlüpfen, während König Peter, Prinz Leonce und Prinzessin Lena ihre Machtspiele treiben und ihnen über die Köpfen steigen.

Gegen die ästhetisch-glasklaren Abende wie etwa „Maria Stuart“ oder „Die Beißfrequenz der Kettenhunde“ der letzten Saison wirkt dieser Gotscheff erfrischend unaufgeräumt und nicht gerade weich gebettet: der Bühnenraum ist nach hinten aufgerissen, die Schlafsäcke pflastern die abschüssige Bühne. Erst am Ende heben ein paar Vertreter des Volks ihre müde zerstrubbelten Köpfe aus der Schlafstatt – Symbol für den verpassten Aufstand von unten. Sie machen bei Gotscheff eine genauso jämmerliche Figur wie die herrschende Klasse, gegen die Büchner sein Stück hauptsächlich wendete. Gotscheffs König Peter ist ein Anzug tragender Politiker, der Vollbeschäftigung verspricht und sich zwischen den Schlafsäcken armrudernd bewegt, als könnte er ein Dirigent des Schicksals sein. Leonce und Lena, von Ole Lagerpusch und Katrin Wichmann drogenverschattet im Stil von Pete Doherty und Courtney Love gespielt, entwickeln ihre Boshaftigkeit aus purer Langeweile.

Aber durchtrieben ist ihr Spiel nicht. Gotscheff schickt die Schauspieler immer wieder genüsslich nach vorn an die Rampe. Dort hadern wie schwärmen sie von Gott und dem Schicksal, der Liebe und dem Ruck, der durch die Gesellschaft gehen müsste. Aber es ist keine Tragödie des Bewusstseins, sondern die Mimikry des freien Willens, die Gotscheff demonstrativ ausstellt, den Abend damit auch quälend in die Länge zieht und mit der aufwendigen Bearbeitung des Büchner-Texts ziemlich übers Ziel hinausschießt. Interessanter als Robert Wilsons manirierte „Leonce und Lena“-Version vor drei Jahren am Berliner Ensemble ist dieser Abend zwar allemal.

Aber so viel künstliche Erregung wie sie Gotscheff auf der Bühne erzeugt, löst im Publikum immer eher das Gegenteil aus. Ex-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, der vor geraumer Zeit mal mit dem Zwischenruf, dies sei ein anständiges Stück, gegen Thalheimers „Liliom“ Stimmung machte, verließ den Saal stumm, aber demonstrativ, bevor das Licht zum Schlussapplaus anging. Vom Rest der Zuschauer beherzter Jubel. Zwar nicht für den Regisseur, aber man hat ja am Thalia immer noch die Schauspieler, die einem mit den Jahren so ans Herz gewachsen sind.

Weitere Vorstellungen am 11., 12., 16. und 29. September