Eine Rolle zu nah am Abgrund

Gena Rowlands führt den holden Wahnsinn der Mabel Longhetti mit Verve zu immer neuen Exzessen: John Cassavetes’ „Frau unter Einfluss“ im fsk

Zwei Leute, die kein Konzept haben, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollen

von MADELEINE BERNSTORFF

„Mein Gesicht ist ein Emotionsunternehmen.“ Mit diesen Worten interpretiert und aktualisiert René Pollesch in seinem Theaterstück „Frau unter Einfluss“ den erfolgreichsten Film des amerikanischen Independent-Regisseurs John Cassavetes „A Women Under the Influence“ (1974). Dieser Film, den das FSK-Kino jetzt neu startet, lebt von der Schauspielerin Gena Rowlands, die den holden Wahnsinn ihrer Figur Mabel Longhetti mit erschütternder Verve durch den Film zu immer neuen Exzessen führt: „Zur Zeit von ‚A Woman Under the Influence‘ schrieb mir ein Italiener: ‚Bitte machen Sie das nie wieder! Mit dieser Rolle stehen Sie zu nah am Abgrund. Eine italienische Schauspielerin ist bei einem ähnlichen Experiment verrückt geworden.‘“ Gesicht und Körper von Mabel begeben sich schutzlos in die Außenwelt, alles wird durch Gesten und Mimik kommentiert, wirkt dadurch aber umso aufgescheuchter und abgetrennter. Gena Rowlands als Mabel bewegt sich mit der Welt und gegen sie.

Ein Film, der auf viel wahrhaftigere Weise vorwegnimmt und erfüllt, was Dogma – durch behende Digitalkameras technisch ermöglicht – zu versprechen schien. Und das auf der Kinoleinwand, die jeden Funken, jedes Zucken und die Tiefe des Raums in Schärfe und Unschärfe erfahrbar macht. Durch lange Brennweiten konnte die Filmkamera weit weg sein, und die Schauspieler wurden nicht behindert. Nach einer gewissen Zeit vergaßen die Schauspieler die Kamera. Gena Rowlands beschreibt die Arbeit mit ihrem Ehemann Cassavetes folgendermaßen: „Für ihn zählten allein die Schauspieler und Schauspielerinnen. Sie waren das Herz seiner Filme. Er war derartig besessen von ihren Bewegungen und ihrem Spiel, dass der Kameramann ihnen ständig auf den Fersen bleiben musste, um sie ins Bild zu bekommen. Platzmarkierungen am Boden gab es nicht: Wir Schauspieler hatten völlige Narrenfreiheit. John forderte von uns, bis an die Grenze der Lächerlichkeit zu gehen, damit die Figuren ihre nackte Wahrheit preisgeben.“

Gena Rowlands (Mabel) kehrt ins Haus zurück, nachdem ihre Mutter mit den Kindern davongefahren ist, eine Entlastung soll es sein, ihr endlich die Zeit mit dem Ehemann Peter Falk (Nick) gönnen. Doch die Sorge und die Überforderung sitzen ihr so sehr im Körper. Sie macht hilflose Schussgesten gegen alles, was sie bestürmt. Das Kugelradio trägt sie an einer Kette durch die Wohnung: „Wollen wir noch auf den Frühling warten.“ Die Arie ist aus der Puccini-Oper La Bohème, in der ein Mann an der Krankheit einer Frau verzweifelt und doch dazu beiträgt, dass das geliebte Wesen dahinschwindet.

Und wieder ein Abend allein. Der Ehemann ruft an, you’re my girl, mein großes Mädchen, sagen die deutschen Untertitel. Nick muss Überstunden machen, ein Wasserrohrbruch. Nachdem Mabel in Windeseile viel Alkohol in einer Bar verzehrt hat und einen Mann mit nach Hause genommen hat, ihn als den Schlepper ihres einsamen Körpers gebraucht hat, gibt es einen morgendlichen Kameraschwenk durch die Obstschale auf dem Tisch zum Bett, wo sich etwas bewegt. Abermals ist sie allein. Wir sehen durch die dick getuschten Wimpern hindurch auf ein verstrubbeltes Gesicht. Der deplatzierte Lover findet aus der Verstörung schnell zur Routine zurück. Nach der Nachtschicht kommt Nick mit sämtlichen Arbeitskollegen. Mabel „signalisiert Arbeitsbereitschaft durch Kochen“ – wie Pollesch es ausdrückt. Es gibt Spagetti für alle. Die gemeinsame Arbeit der Männer ist ein Bündnis, gegen das sie nicht an kann. Die Gespräche sind liebevoll, aber hilflos bemüht und immer an der Grenze des Bloßstellens, bis der Ehemann sie vor allen anderen rüde zurechtweist. Die Frage, ob sie „anders“ oder „schwierig“ oder „verrückt“ sei, steht dauernd im Raum. Später veranstaltet Mabel eine Kinderparty, die Kleinen tanzen den sterbenden Schwan. Die Übergänge zwischen dem Sozialen, dem Existenziellen und dem Psychopathischen werden betastet und dialektisch in Bewegung gehalten, das Missglücken ist strukturell.

„Und ich denke, besonders ‚A Woman Under the Influence‘ ist ein Fall, wo zwei Leute einfach kein Konzept dafür haben, wie sie mit ihrem Gefühl füreinander umgehen sollen. Wenn Leute sich wirklich mögen, dann erleben sie lauter solches Zeug, viel schlimmer als das, was man in ‚A Woman Under the Influence‘ sieht. Der Film ist nicht deprimierend. Die Filme, die ich mache, versuchen immer nur zu sagen: was würdest du sonst mit deinem Leben anfangen, wenn du nicht diese schrecklichen, halb langweiligen, halb erschreckenden Abenteuer des Herzens hättest?“ (John Cassavetes)

fsk, siehe cinema-taz