Neues Jahr im alten Heim

Silvester wird nicht nur am Brandenburger Tor gefeiert. Die Fete im Seniorenheim war auch laut, die Stimmung trunken, das Prosit herzlich. Nur geböllert hat keiner. Und um halb eins war alles vorbei

„Für ein richtiges Feuerwerk müsste ich zum Brandenburger Tor. Bin ich doof?“

von ANNE HAEMING

„Ist jetzt zwölf?“ Unsicher scharren sie mit den Stühlen, ihre Sektkelche im Klammergriff. Gerade hatte doch jemand gesagt, sie würden laut runterzählen, alle zusammen, hinten im Eck krächzt ein Radiosender. Lisa Heym, Heinz Friedrichs, Jürgen Gadow, das Ehepaar Zöllner und die anderen am Tisch stehen zögernd auf, halten sich etwas verloren an den konfettibestreuten Tischen fest. Man will ja nicht zu früh anstoßen – das neue Jahr andererseits nicht um Sekunden verpassen. Irgendwann klonken die Gläser trotzdem aneinander. Die Seniorenresidenz Nova Vita feiert Silvester. Und die Euphorie der Jahreswende bewirkt wahre Wunder – als die Lahmen ihre Krücken wegwarfen, damals bei Jesus, kann die Stimmung nicht besser gewesen sein.

Zwei Stunden vorher. Noch bestimmen Hörgeräte, Rollstühle und dicke Brillen den Ton. Der Speisesaal „Vier Jahreszeiten“ ist voll besetzt mit weißen Smokings und schillernden Abendroben. Man wartet. Und kämpft sich durchs vanillecremige Dessert. Über den Tellerrand schnörkelt sich eine schokoladige 2003, über den Tisch die Luftschlangen und der Schornsteinfeger den Glücksklee empor. Das sind die einzigen Indizien, dass hier gefeiert wird. Die Laune ist mau. Daran können auch die bunten Krönchen aus Seidenpapier nichts ändern. „Das setze ich doch nicht auf.“ Besonders Damen sind entrüstet. Nur Silvia Kock greift sich eine Papierkrone, in Grün. Sie bläst die Backen auf. Um den Fünfertisch sitzt eine Runde festlich dekorierter Frauen, außen zerbrechlich, innen resolut, der Schnitt: 80 Jahre. Ein Blick auf die Uhr zeigt: Es dauert noch. Dann eben Zeitvertreib mit Knallbonbons. Hildegard Pruss schält aus dem Stanniolpapier einen Zettel, mit dem Lesen geht’s nicht mehr so gut. „Es gibt nichts Gutes, außer man knutscht es“, steht da. „Na, das ist ja für mich zu spät.“ Letztes Silvester hat sie noch bei sich gefeiert: „Das Haus war voller Leute.“ Sie ist erst seit einem halben Jahr hier, Schlaganfall. Bis dahin war Frau Pruss noch jeden Tag arbeiten, mit ihrem Sohn zusammen hatte sie einen Chemikalienhandel. Jetzt rollt sie einhändig ihren Rollstuhl zurecht, die Rätselrunde beginnt. Der grüne Luftballon an ihrer Lehne ruckelt. Eine Betreuerin spricht stupide Fragen ins Mikrofon, Qualität: „Was hängt an der Wand und macht Ticktack?“. Entrüstetes Brummen und jemand ruft halblaut: „Wir sind doch keine Kinder!“

Die Rotweingläser leeren sich zusehends, die güldenen Kerzen schmelzen dahin. Die Heimleitung hat heute mit ihren Stimmungskanonen keinen Erfolg. Schon der Sänger zwischen der Wildschweinpastete und dem Zanderfilet erntete als Kommentar nur ein knurriges „Das ist Musik für Teenager.“ Vorletztes Jahr war das alles anders, erzählt Heinz Friedrichs, das „Küken“ vom Nebentisch. Er ist erst 77 und sieht aus wie Billy Wilder. „Vor zwei Jahren haben wir noch selber Sketche aufgeführt und ewig geprobt dafür.“ Friedrichs ist der „Oberboss“, wie Lisa Heym lachend erklärt. Wie ein Betriebsratsvorsitzender, nur eben im Altenheim. „Man muss das realistisch sehen“, meint er. „Wir sind alle zwei Jahre älter.“

Im Silvester-Wartesaal rumort es, der nächste Zeitvertreib hat seinen Auftritt. Der Zauberer hat schon einen langen Abend hinter sich, seine Stimme ist heiser. Zuerst werden seine Kunststücke noch skeptisch beäugt. Doch flinke Finger, Kartentricks und unsichtbare Tücher erfüllen ihren Zweck. Endlich haben auch die Schwerhörigen ihren Spaß. Als Houdini einen Witz über Gebisse und Totengräber reißt, tobt der Saal der Gebrechlichen.

Noch zwanzig Minuten bis Mitternacht. Frau Pruss hat sich schon verabschiedet, sie rollt ins Bett. Der rote Haarschopf von Gerda Donicht, einer kleinen, quirligen 92-Jährigen, taucht hier und da zwischen den Stuhllehnen auf, sie verknipst ganze Filme. Die Sektkelche werden ausgeteilt, der Countdown läuft. Irgendwann taucht die entscheidende Frage auf: „Ist jetzt zwölf?“

Das neue Jahr ist kaum fünf Minuten alt, da ist die erste Aufregung längst verebbt. Ex-Grundschullehrerin Heym teilt Wunderkerzen aus. Sie waren in zwei schmucken Papp-Etuis versteckt, darauf in grüner Schnörkelschrift „Jürgen“ und „Lisa“. Unter sprühenden Sternen verkündet Lisa Heym: „Wir begrüßen das neue Jahr!“, die rußigen Glimmstängel entsorgt sie kurzerhand im Glückskleetopf. Ob sie gute Vorsätze hat? Sie blinzelt kurz mit ihren getuschten Wimpern. Ach wo, sie winkt ab.

Am Tisch vom Oberboss sitzt ein eingeschworener Freundeskreis. Es ist die Generation, aus deren Vokabular das Wort „Pennäler“ nicht wegzudenken ist. Jürgen Gadow beißt in seinen Pfannkuchen und blickt etwas desinteressiert auf den farbigen Feuerregen vor dem Fenster. „Um ein richtiges Feuerwerk zu sehen, müsste ich ja zum Brandenburger Tor. Bin ich doof?“ Er tockt sich mit dem Finger an die Stirn. Er ist aus der Generation, die zumindest den Zweiten Weltkrieg aus nächster Nähe erlebt hat. Das Geräusch der Böller störe ihn nicht mehr, meint Gadow. Aber die Erinnerung an Silvester 1945 ist lebendiger als an viele, die folgten. „Der Krieg war vorbei, das war die Hauptsache“, erinnert sich Friedrichs. „Wir hatten hier in Berlin keinen Brennstoff, das Eis konnte man von den Wänden kratzen.“

Melancholie und Müdigkeit halten Einzug, zwanzig Minuten nach zwölf ist der Speisesaal leer. Allein das Aufräumkommando schleppt sich noch durch die Tischreihen. Die Rückkehr zur Routine wird nur kurz unterbrochen. Im zweiten Stock hat sich einer der älteren Herren versehentlich ausgesperrt. Es ist 0.40 Uhr am 1. 1. 2003, draußen ist es affenkalt. Er steht auf dem Balkon. Seine Rettung ist die erste gute Tat des Jahres.