Niemand schläft, niemand liebt

Puccinis letztes Wort ist endlich entziffert: Lorenzo Fioroni hat „Turandot“ an der Deutschen Oper neu inszeniert. Am Ende steht nicht die Liebe, sondern der Fieberwahn. Mord und Terror befriedigen besser als das Glück eines anderen Menschen

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Vielleicht ist Lorenzo Fioroni, 1972 in Locarno geboren, gerade auf dem Weg, einer der wichtigsten Opernregisseure zu werden. Spektakulärer Theaterdonner allerdings ist nicht seine Sache. Mit Erfolg, aber ohne medientaugliche Sensationen, hat er bisher in der Provinz gearbeitet, in Münster, Kassel, Dresden. Vor zwei Jahren stellte er sich zum ersten Mal in Berlin mit seiner Inszenierung von Verdis „Simon Boccanegra“ an der Deutschen Oper vor. Hinter den überragenden Leistungen der damals dafür verpflichteten Sänger schien seine Regie fast zu verschwinden. In düsteren Bildern und Kulissen, die in die Entstehungszeit des Werkes zurückverwiesen, entfaltete sich die überaus gegenwärtige, menschlich bewegende Tragödie eines politischen Reformators. Der ganze Verdi, nicht nur der unsterbliche Musiker, sondern auch der politisch denkende Intellektuelle seiner Zeit, sprach da von der Bühne herab zu einem Publikum von heute, das nicht anders konnte, als ihm gebannt zuzuhören.

Eiserner Rahmen

Nun kehrt Fioroni mit Giacomo Puccinis „Turandot“ an die Deutsche Oper zurück. Und wieder muss man genau hinsehen, um seine Handschrift zu entdecken, nicht sosehr, weil sie auch dieses Mal hinter dem sängerischen Glanz verschwindet. Lise Lindström in der Titelrolle und Marco Berti als Prinz Calaf sind sehr gut und verdienen ihren Applaus redlich – aber mehr auch nicht. Fioroni ist deswegen ein großer Regisseur, weil er wiederum nicht sich selbst, sondern nur Puccini zu Wort kommen lässt – den ganzen Puccini, nicht nur den Komponisten von Welthits wie „Nessun dorma“ (der gerade Werbung für die Telekom machen muss). Es ist alles ganz anders, als es die Glut dieser unsterblichen Melodie glauben macht. Puccinis großes Thema seines Lebens, die Liebe zwischen Mann und Frau, ist in diesem seinem letzten, unvollendeten Werk so grausam zerstört, dass einen schaudert.

Zumindest bei Fioroni ist das so, obwohl er kaum etwas dafür tut. Sein Theater ist statisch, ohne dramatische Zuspitzung, eingesperrt in einen eisernen Rahmen, der das Bühnenportal zu einem Schaufenster im Stil chinesischer Architektur gefrieren lässt. Der Raum dahinter ist eng, zugemauert durch mächtige Quader, Stuhlreihen stehen davor für den Chor des Volkes, das zusammengetrieben hier Platz zu nehmen hat für das Schauspiel eines mörderischen Rituals. Drei grotesk maskierte und kostümierte Figuren spielen schon bald den immergleichen Ablauf pantomimisch vor. „Schleift die Messer, das Blut soll spritzen“, singen Chor und Henkersknechte im Wechsel das stampfend vorantreibende, pentatonische Grundmotiv, das die ganze Oper wie ein Gespenst im Hintergrund durchzieht. Im ersten Akt, lange bevor die Prinzessin ihre tödlichen Rätsel stellt, wird es mit brutaler Gewalt eingängig und misstönend zugleich herausgeschleudert.

Aus dieser düsteren Welt gibt es keinen Ausgang, Chor und Solisten stehen an der Rampe, als sei dem Regisseur einfach nichts eingefallen, was sie stattdessen tun könnten, um dem Drama Gestalt zu geben. Aber um Fioroni zu verstehen, muss man wissen, dass er einige Jahre als Cellist in verschiedenen Orchestern gearbeitet hat, bevor er nach Hamburg zu Götz Friedrich ging, um das Handwerk der Regie zu lernen. Seine Turandot ist nicht die Inszenierung eines Theaters, sondern die Interpretation einer Partitur. Er hört zu und analysiert, und kommt deshalb gar nicht auf die Idee, die Musik mit theatralischen Gesten über das hinaus zu illustrieren, was sie enthält. Puccini lässt Calaf, den Prinzen, der Turandots Rätsel lösen wird, seinen Vater und das Mädchen Liu, das ihn liebt, in kontrapunktisch in den Strom des Todeschors eingestreuten Haltepunkten auftreten, und genau so geschieht es auf Fioronis Bühne. Die Hauptfiguren sind zunächst kaum zu erkennen, sie haben ihre eigenen, expressiven Phrasen, bleiben aber immer eingebunden in den Zusammenhang des gesamten musikalischen Kontextes.

Verlogene Pracht

Auf diese Weise gelingt Fioroni auf ganz logische Weise, das notorische Problem des Schlusses dieser Oper zu lösen. Mag sein, dass Puccini selbst an ein glückliches Ende mit einer durch Calafs Liebe verwandelten Turandot gedacht hatte. Bei Fioroni ist nun endlich zu hören – und durchaus auch zu sehen –, dass er dieses Ende von Anfang an verhindert hat. Sein Calaf ist kein Liebender, sondern vom Fieberwahn einer sehr wohl sexuellen Lust befallen, die mit Mord und Terror viel besser befriedigt wird als mit dem Glück eines anderen Menschen. Deswegen kann er Turandots Rätsel lösen, stellt sie selbst auf die Probe und schließt am Ende einen Pakt mit ihr, damit sie gemeinsam diese lebensfeindliche Welt des Grauens beherrschen, die uns Fioroni in seinem chinesischen Schaufenster zeigt.

Zum Glück ist sie so eingesperrt und entrückt. Von der Decke baumelt die Leiche der gefolterten Liu, Turandot und Calaf erstechen ihre jeweiligen Väter, besteigen den Thron und singen dazu, dass der Name des neuen Herrschers „Liebe“ sei. Der Chor zitiert Motive von „Nessun dorma“, man mag es kaum hören, so trostlos depressiv klingen sie jetzt in ihrer verlogenen Pracht. Das also war Puccinis letztes Wort, Fioroni hat es endlich entziffert. Dass er dafür von den Ahnungslosen ausgebuht wurde, die es besser zu wissen glauben, kann man verstehen. Lorenzo Fioroni muss es nicht stören, er wird seinen Weg als großer Regisseur großer Opern weitergehen.

Nächste Aufführungen: 16., 19. September