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: Stadtbekannte Hedonisten gaben vor, in den letzten Stunden des Jahres die Wohnung aufräumen zu wollen

Die neue Bescheidenheit

Nun ist das neue Jahr schon drei Tage alt und fast ein bisschen gewöhnlich … Aber gut, dass alles überstanden ist, Weihnachten, Silvester, Neujahr. Alles ist ganz glimpflich abgegangen.

Schon am Nachmittag des 31. war eine merkwürdige Gelassenheit, eine seltsame Unaufgeregtheit in der Stadt zu beobachten. Zwar wurde bei Aldi der Champagner rationiert und Fonduekäse war angeblich stadtweit ausverkauft, aber die Leute wirkten in ihren Erwartungen und Planungen die Nacht der Nächte betreffend ganz genügsam. Sonst penetrant vergnügungssüchtige Pärchen wollten später nur etwas essen und um 12 zum Fenster hinausschauen, stadtbekannte Hedonisten gaben vor, in den letzten Stunden des Jahres die Wohnung aufräumen zu wollen. Fast könnte man versucht sein, die „neue Bescheidenheit“ schon jetzt als Trend für 2003 auszurufen.

Auch die Knaller- und Böllerangriffe integrationsunwilliger Jugendbanden hielten sich dieses Jahr voll in Grenzen. Ohne sich in konkrete Todesgefahr zu begeben konnte man um 20 Uhr in Kreuzberg noch die Straße überqueren.

In der Falckensteinstraße wurde eine rührende Szene beobachtet: Vier durchaus kleinkriminell wirkende Hobby-Pyrotechniker wollten ein polnisches Totenkopf-Dynamitpaket zünden, hielten aber inne und riefen einer besorgt wirkenden Passantin ein fürsorgliches „Laufen sie ruhig durch! Wir warten so lange!“ zu. Sollte die neue Bescheidenheit etwa mit neuer Freundlichkeit einhergehen? Unvorstellbar, wie sich dadurch unser ganzes Leben verändern könnte …

Im Trendbezirk Mitte lagen die Straßen kurz vor Mitternacht noch still, fast wie ausgestorben da. Lag es an der Kälte oder waren etwa doch alle aus Versehen zum Brandenburger Tor gegangen? Oder sind sich die Mitte-People zu fein zum traditionellen Outdoor-Midnight-Streetlife? Nach Einschätzung der Feuerwehr wird ja besonders in Wohngebieten mit einkommensschwacher Bevölkerung viel geknallt.

Kurz vor Mitternacht rotteten sich dann aber auch in der Torstraße vor den Burger’schen Amüsierbetrieben erste Krachergruppen zusammen. Überall zischte und knallte es, Pulverdampf lag in der Luft. Im Rahmen der neuen Bescheidenheit hatten viele Aktivisten auf das große Raketensortiment verzichtet. Bescheidene „Heuler“ zischten bedächtig über den Gehweg, ab und zu knallte ein irrläufernder Kracher dazwischen, verströmte sich ein liebes, unaufgeregtes Tischfeuerwerk im Funkenregen. Die vielen mitgebrachten eiskalten Aldi-Champagner und Rotkäppchen-Flaschen wollten gar nicht leerer werden, so bescheiden nippten alle nur daran.

Mit einfachen Mitteln amüsierte sich eine Gruppe junger HipHop-Gymnasiasten, nachdem sie ihr Pulver verschossen hatten. Es braucht nämlich keine teuren Drogen, eingeflogenen Star-Djs und hochgezüchteten Clublandschaften für einen aufregenden Jahreswechsel! Die agilen Jugendlichen blockierten einfach die Kreuzung, rücksichtsvollerweise aber nur bei roter Ampelschaltung, sangen zur Melodie von „Es gibt nur ein’ Rudi Völler“ den politisch und grammatikalisch viel korrekteren Text „Nie wieder Deutschland“ und hatten so einen Heidenspaß.

Einsame Taxifahrer wurden mit Wunderkerzen beschwenkt, nur kurz drohte die Situation zu eskalieren, als ein übereifriger Revolutionär einen Tannenbaum über die Straße schleifte. Bescheiden und genügsam saßen die jungen Menschen noch lange bei minus 10 Grad auf der Straße – rührend. So ist die Jugend: Kompromisslos radikal. Verrückt, aber herrlich verrückt bei aller Bescheidenheit! Es wird ein gutes Jahr werden.

CHRISTIANE RÖSINGER