robin alexander über schicksal
: Gute Nacht, neues Jahr!

Statt drei Prozent mehr Lohn sollten die Gewerkschaften dreißig Minuten länger schlafen durchsetzen

Mancher Tag ist schon versaut, bevor er anfängt. Man hat noch keinen Blick auf den jungen Morgen geworfen, da schwant einem schon: Heute brauchst du eigentlich überhaupt nicht aufstehen. Sie kennen das? Alle kennen das! Das Sich-schlecht-Fühlen beim Gewecktwerden ist eine wissenschaftlich nachgewiesene anthropologische Konstante in allen Kulturen und Zeiten. Eine der großen ungelösten Menschheitsfragen aber ist: Warum erhebt sich der Mensch trotzdem vom warmen Lager in die kalte Welt?

Mein Nachbar etwa frönt wider besseres Wissen regelmäßiger Lohnarbeit. Seine Schicht beginnt um acht und – wie seine konstant schlechte Laune verrät: Nichts zieht ihn wirklich dorthin. Aber jeden Morgen fabriziert ein unscheinbarer elektronischer Apparat auf seinem Nachttisch eine dichte Folge akustischer Signale auf einer extrem hohen Frequenz. Dieses Piepsen dringt durch Mauerwerk, Stein und Gebälk bis in meine Wohnung – und meinen Schlaf. Hielte ich einen Delfin oder einen Buckelwal in meiner Badewanne, würde ich mir Sorgen machen um das empfindliche Trommelfell der Tiere. Im Kleinhirn meines Nachbarn jedoch aktivieren die grausamen Töne die folgende Konditionierung aus elektronischen Signalen, die – in menschliche Sprache übertragen – ungefähr so lautet: „Ich will den neuen Golf aus der Werbung.“

In bestimmten Teilen unserer Gesellschaft haben noch archaischere Formen des Weckens überlebt. „Kompanie, aufstehen!“, schreien Unteroffiziere bei der Bundeswehr spätestens um sechs. Gehören Wecker zu den Hightechprodukten, die sich unsere chronisch unterfinanzierte Bundeswehr unter Rot-Grün nicht mehr leisten kann? Nein, wer den Ruf des Unteroffiziers vom Dienst vernimmt, weiß: Man will und sollte heute wirklich nicht aufstehen. Man muss! Das brutal Gewecktwerden ist unumgänglicher Bestandteil der Ausbildung in allen Armeen dieser Welt.

Natürlich gibt es auch subtile Formen des Weckens. Mancher will aus dem vollkommenen Reich des Schlafes in den unvollkommenen Tag quasi gelockt werden: „Schahaatz“ – an dieser Stelle gilt es, sich ein wohliges Hauchen vorzustellen, bei dem sich die feinen Härchen oberhalb der linken Ohrmuschel senkrecht nach oben stellen – „Schahaatz, bitte, bitte, steh doch auf und geh arbeiten.“ So geweckt zu werden, bedeutet für manche Männer beinahe vollkommenes Glück. Wirklich vollkommenes Glück wäre: „Bleib ruhig liegen, Liebling, schlaf weiter, ich geh arbeiten.“ Das aber gibt es nicht auf dieser Welt. Ob Unteroffizier, Ehefrau oder Geliebte: Der Mensch ist dem Menschen ein Wecker.

Die leidvollen Erfahrungen von Jahrhunderten Frühaufstehens haben sich sogar in unsere Sprache eingeschrieben. Plastisch wie präzise ist das vorbildliche Wort „Morgengrauen“. Christus hingegen hat nicht nur eine unausgeschlafene Religion, sondern auch allerhand Verwirrung gestiftet: Einerseits soll man „in aller Herrgottsfrühe“ aus dem Bett kommen, andererseits ist dies dann „zu einer unchristlichen Zeit“. In den seitdem vergangenen zweitausend Jahren gab es glücklicherweise ein wenig gesellschaftlichen Fortschritt. Faustregel dafür: Ein Land ist umso zivilisierter, je länger seine Menschen morgens schlafen. Dass der Sozialismus keiner war, merkte man leicht – jeden Morgen: Schon um sieben Uhr begann in der DDR gewöhnlich die Arbeit. Eine kostbare Stunde früher als im Westen! Solche barbarischen Missstände konnten auch Mauer, Stasi und Fernsehballett nicht auf Dauer stabilisieren. Heute könnten sich die Gewerkschaften der Unterstützung aller guten Menschen und fortschrittlichen Kräfte erfreuen, setzten sie sich in Tarifverhandlungen nicht für drei Prozent mehr Lohn und Gehalt ein, sondern für dreißig Minuten morgens länger schlafen.

Doch die Emanzipation des Menschen vom Wecker schreitet nur langsam voran. Einzelnen gelingt selbstbestimmter Schlaf allerdings schon heute. Manche stehen erst um zehn auf. Andere erheben sich erst um elf. Meine Freundin steht von neun bis elf auf. In diesen zwei Stunden schrillt alle fünfzehn Minuten ihr Wecker, und jedesmal stellt sie ihn fünfzehn Minuten weiter. Sie schläft immer wieder ein. Trotz Wecker. Das ist der schönste Schlaf.

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