Mit schiefem Mund

„Soldaten für Hitler“: Da gibt es die Täter, es gibt die wenigen Widerstandskämpfer – und es gibt die Masse der Mitläufer. Ein Zeitzeuge stellt sich nach sechzig Jahren der Scham

von CORNELIA KURTH

Er ist so lange schon mein „alter Freund“: Winfried Pielow, geboren 1924, emeritierter Didaktikprofessor aus Münster, Schriftsteller, ein westfälischer Dickkopf mit Neigung zum Grübeln und zum Poststrukturalismus. Wir haben über alles geredet, worüber gute Freunde reden: über die Liebe, über das Leben, über die Philosophie und über den Tod. Nur über eines nicht. Über den Krieg.

Das lag keineswegs an mir. Oft habe ich versucht, ihn auszufragen über den „Russlandfeldzug“, der den Ruf der Wehrmacht mehr als alles andere ruinierte. Ich wollte wissen, wie es ihm ergangen war und damit zwangsläufig zugleich, was er gehört, gesehen, was er gewusst hatte. Aber immer wich er mir aus und so ertappte ich mich doch bei dem Gedanken, der gut- und sanftmütige Freund könne selbst in eines der Verbrechen der Wehrmacht verwickelt gewesen sein. Was hast du getan? Und warum willst du mit mir nicht darüber sprechen?

Jetzt hat er mir seinen neuen Roman geschenkt, „Der Zeitzeuge“, frisch im Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat, Münster erschienen (256 Seiten, 18,90 Euro). Soll das wohl die Erklärung für sein Schweigen sein?

Winfried Pielow erzählt darin von einem alten Mann namens Benno Pelplin, der zurückgezogen in Spanien lebt, bis ihn 1998 die Aufforderung eines befreundeten Redakteurs erreicht, dass er bitte, unbedingt, nach Deutschland, Berlin, zurückkehren möge, um als Zeitzeuge auszusagen in einer Fernsehsendung mit dem Titel „Soldaten für Hitler“.

Es wird eine Reise zurück in die „Heimat“, zurück in den Krieg, zurück in die Tiefen einer verdrängten Scham, für die Worte finden zu müssen eine große Überwindung ist.

Zwei Begleiter hat der alte Mann auf seiner schweren Reise, an deren Ende er sich der Kamera und damit einer Art Gericht und Urteil stellen will: Ein Kriegstagebuch mit verwischter Schrift, das er als neunzehnjähriger Fähnrich geführt hatte. Und einen Kriegshelden, nein, Helden des Widerstands, Axel von dem Bussche (siehe Randspalte), der als 24-jähriger Offizier bereit gewesen war, sein Leben in einem Attentat auf Hitler zu opfern.

Mühsam und voller Widerwillen entziffert der Alte sein düsteres Tagebuch, in dem sich, so sehr er auch danach sucht, kein Funken eines widerständigen Heldentums finden lässt. Hell und strahlend dagegen drängt sich Axel von dem Bussche in seine Gedanken und kristallisiert sich dabei visionsartig zu einem tapferen Rittersagenhelden, der vielleicht schon seit Jahrhunderten existierte und 1943 wiederkehrte, um als Einziger unter allen „Soldaten für Hitler“ sein Leben für den Tyrannenmord nicht nur zu riskieren, sondern ganz geplant zu opfern. Während einer Vorführung neuer Uniformmodelle, so der Plan, wollte von dem Bussche Hitler umarmen und eine Handgranate zünden. Doch der Zug mit den Uniformen wurde am Tag vor der Vorführung bombardiert, die Opferbereitschaft des Dressmans blieb Bereitschaft.

Über lange Stationen scheint Benno Pelplins Reise nach Berlin mit all ihren Umwegen zu historischen Stätten nichts weiter als eine Flucht zu sein. Zu grausig ist ihm die Vorstellung, sich vor der Fernsehkamera einzureihen in einen „griechischen Chor“ alter Zeitzeugen, die stotternd, stammelnd, erschüttert ihre Kriegserlebnisse berichten würden, unter deren Last sie fast zusammenbrechen, während kühle Nachkommen nichts anderes hören als altbekannte Anekdoten und peinliche Selbstrechtfertigungen.

Was soll er anderes sagen als das, was sie alle schon immer gesagt haben und auch diesmal sagen werden: Einer wie alle, nicht zur SS, sondern zur Wehrmacht gehörend, an der Front gewesen, weit weg von Hinterland und Massakern an jüdischen, russischen, polnischen Zivilisten. Nicht „für Hitler“ gekämpft, sondern für das „Vaterland“. Geweint beim Lied „Ich hatt einen Kameraden“, weil es eben ständig so war, dass man einen Kameraden hatte, der neben einem fiel.

Sein Tagebuch zeigt ihm einen kleinen funktionierenden Soldaten, der so sehr mit seiner eigenen Not beschäftigt war, dass er kaum über den Rand des Schützengrabens hinausblickte. Sicher fragt er manchmal, was das alles soll. Aber gewiss nicht: „Was kann ich dagegen tun?“

Wird man ihm glauben? Und wenn ja, wie steht er dann da, in einer Gegenwart, in der es als fast gesichert gilt, dass nur Ignoranten oder „tumbe Toren“ blind und taub waren für den Völkermord hinter der Front?

In seiner Verzweiflung schließlich durchforstet der alte Mann das kümmerliche kleine Tagebuch nach Stellen, die wenigstens beweisen könnten, dass er bewusst weggesehen und weggehört habe. Als sei es besser, eine greifbare Schuld auf sich geladen zu haben, als auf die Frage: „Was hast du getan?“ mit „Nichts!“ antworten zu müssen. Aber auch solche Stellen gibt es zu seinem Schrecken nicht.

Freunde, die er unterwegs aufsucht, begrüßen ihn mit einem „Benno, du lebst noch!“, nicht viel anders, als ihn damals seine erschrockenen Eltern begrüßten, als er sich unerlaubt von der Truppe entfernte, nicht, um zu desertieren, sondern einfach nur, weil er nicht mehr konnte und nach Hause wollte.

Keiner der jüngeren Freunde, nicht der kühle Julius und auch nicht die ehemalige Geliebte Ute, nehmen Pelplins Zeitzeugengrübeleien ernst. Er nervt die Nachgeborenen. Hat scheinbar abwegige historische Assoziationen im Kopf, wenn die anderen in einem kreativen Schreibkreis ihre Texte vorstellen; kommt ihnen mit Abenteuern seines Helden Axel von dem Bussche, den niemand kennt; zerbricht sich in ihren Augen so unnötig den Kopf. „Ach du, Benno, was hast du denn damals schon getan?“

Wie sollen sie auch Benno Pelplins Scham verstehen, die ihn, um ihr zu entkommen, zu dem vermessenen Gedanken führt, dass das öffentliche Bekenntnis seiner Ahnungslosigkeit, seiner Nichtigkeit keineswegs eine Rechtfertigung sein wird, sondern ein Bußgang oder mehr noch: eine Art Spiegelbild zu Axel von dem Bussches Bereitschaft, sein Leben in einem Attentat zu opfern.

Ein anmaßender, verrückter Gedanke, der sich unterschwellig durch den ganzen eigenartigen Roman zieht. Sich stellvertretend für alle blinden, tauben, stummen Wehrmachtsangehörigen vor der Fernsehöffentlichkeit an den Pranger zu stellen und damit die eigene Existenz seltsam heldenhaft bis zur Vernichtung zu entblößen.

Eigenwillig, störrisch und in seiner selbstironischen Konstruktion durchaus poststrukturalistisch geprägt, ist Winfried Pielows Roman in Wirklichkeit ein ziemlich unkonventioneller „Kriegsroman“, in dem die von der „Gnade der späten Geburt“ Beschenkten einem Menschen begegnen, den der Krieg und das „Soldatsein für Hitler“ so umtreibt, wie sie es sich vielleicht von ihren Vätern und Großvätern gewünscht hätten. Oder wäre ihnen das alles nicht schon zu viel?

Der „Zeitzeuge“ erscheint tapfer zum Aufnahmetermin für die Fernsehsendung. Er spricht: „Ich, ich komme nie mehr davon los, dass auch ich beteiligt war an all dem Entsetzlichen, was geschehen ist.“ Pielows Ich-Erzähler schreibt: „Der das so sagte, dem war der Unterkiefer zertrümmert, der sprach mit schiefem Mund und langen, bleckenden Zähnen. Seine Stimme stockte, seine Stimme zitterte, es kamen ihm die Tränen – Schnitt, Ende des Films.“

Pelplin hätte wirklich lieber nicht über sich selbst gesprochen. Nur über diesen großartigen Anderen, der er ganz und gar nicht sein konnte. It was not to be, schreibt ein englischer Historiker über Axel von dem Bussches verhindertes Attentat auf Hitler.

Ich übrigens wusste über Axel von dem Bussche gut Bescheid. Weil Winfried Pielow mir immer nur von ihm erzählte, wenn ich unbefangen wissen wollte, wie es denn war, als „Zeitzeuge“ im Russlandfeldzug.

CORNELIA KURTH, geboren 1960, lebt als freie Autorin in Rinteln und schreibt regelmäßig für das taz.mag. Von ihr erschien zuletzt der Roman „Ein Jahr mit neunzig Tagen“ (Rowohlt)