: „Zuzahlen ja, aber nicht so hohe Summen“
Friedrich Wilhelm Schwartz, Mitglied im Sachverständigenrat, der das Bundesgesundheitsministerium berät, zur Finanzierung des Systems
taz: Herr Schwartz, ständig klaffen neue Löcher in den Krankenkassen. Immer wieder kommt daher der Vorschlag auf, es wie die Skandinavier oder die Briten zu machen, die ihr Gesundheitssystem über die Steuern finanzieren. Halten Sie das für eine gute Idee?
Friedrich Wilhelm Schwartz: Die steuerfinanzierten Systeme schneiden tatsächlich international am besten ab. Da muss man gar keinen Ideologiestreit veranstalten. Nehmen Sie Großbritannien: Die Lebenserwartung liegt höher als in Deutschland, gleichzeitig belaufen sich die Gesundheitsausgaben nur auf etwas mehr als die Hälfte pro Kopf.
Hier hört man vor allem von den Warteschlangen, die sich vor den Operationssälen bilden.
Der schlechte Ruf Großbritanniens wird in Deutschland eifrig gepflegt. Zugegeben, die Briten übertreiben ein bisschen. Das Angebot an Krankenhausplätzen und an Fachärzten ist etwas zu knapp. Das funktioniert in Skandinavien besser.
Aber auch dort muss man auf einen Krankenhausplatz warten.
Das gilt nur für planbare und nicht dringliche Eingriffe – und das ist nicht unbedingt nachteilig. In Deutschland wird zu viel operiert. So sind ein Viertel aller Blinddarmeingriffe gar nicht nötig. Auch an den Gelenken wird zu viel eingegriffen.
Das deutsche System hat also gar keine Vorteile?
Doch. Es hat dazu geführt, dass wir viele Ärzte haben, viele Betten pro Einwohner und eine hohe Technikdichte. Allerdings nutzt das nicht immer. Denn in Deutschland kommt es zu einer Überversorgung bei der Diagnostik – es wird viel zu viel geröntgt. Aber bei der Prävention fehlt es, und chronisch Kranke werden oft nur suboptimal versorgt. Das wird sich ohne staatliche Steuerung nicht ändern.
Also auf zum steuerfinanzierten System?
Langsam. Eines ist aber klar: Wir müssen uns davon verabschieden, die Kassenbeiträge nur lohnbezogen zu erheben. Denn die Lohnquote, der Anteil der Gehälter am Volkseinkommen, geht immer weiter zurück. Daher müssen alle Einkommensarten beitragspflichtig werden, also auch Mieterträge und Zinseinkünfte. Es ist nicht fair, dass Besserverdienende oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze die vollen Leistungen erhalten, aber nicht nach ihrem Einkommen einzahlen.
Das wäre doch dann fast wie eine Steuer.
Man könnte es tatsächlich eine Sozialsteuer nennen. Aber es hätte den Vorteil, dass es mehr Wettbewerb geben könnte zwischen den Kassen, Ärzten und Krankenhäusern als in einem klassisch steuerfinanzierten System.
Und was ist mit den Privatversicherten? Sollen sie auch einbezogen werden?
Nein. So unerwartet es klingen mag: Das würde dem Gesundheitssystem Geld entziehen. Denn Privatversicherte zahlen pro Kopf mehr ein, da sie sich nach Risiko versichern müssen – also nach Alter und Vorerkrankungen. Außerdem muss jedes Kind einzeln versichert werden.
Der Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen hat mit einem ganz anderen Vorschlag Furore gemacht: Alle Patienten sollen jährlich 900 Euro zuzahlen, dann könnte der Kassensatz auf 12,4 Prozent sinken.
Wenn die Zusammenhänge so einfach wären, bräuchten wir kein Gesundheitsministerium. Dann würde ein einziger Ministerialdirigent ausreichen, um auszurechnen, wie viel jeder zuzahlen muss, um einen beliebig gewünschten Kassensatz zu erzielen.
Sollen die Patienten gar nicht zuzahlen?
Doch, aber nicht so hohe Summen und nicht so pauschal. Die Schweden müssen beispielsweise ein paar Euro zahlen, wenn sie zum Arzt gehen. Die Deutschen hingegen sind Europameister beim Arztbesuch – kein Volk rennt in so viele Praxen, ohne dadurch gesünder zu sein. Bei vielen Alltagskrankheiten wissen die Patienten sowieso am besten, was ihnen gut tut. Das meint sogar die Weltgesundheitsorganisation. Da könnte ein bisschen Lenkung nicht schaden.
INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN