Das Rätsel des Punkendeichs

In Bremens lokalhistorischem Schatzkistchen entdeckt: Bei der Eiswette geben sich die hanseatischen Honoratioren ein Stelldichein an einem höchst anzüglichen Ort

Heute also geht’s zur Eiswette: Seit 1829 prüfen am Dreikönigstag pünktlich um 12 Uhr mittags Kaufleute und andere Honoratioren die Weser auf ihre „Geiht-“ beziehungsweise „Steihtigkeit“ – sprich ob das Eis den Fluss bedeckt. Obwohl seit über 100 Jahren die Weser nicht mehr zufrieren kann, weil sie am Oberlauf von Industrieabwässern aufgeheizt und wegen der Flussbegradigung zu schnell ist, lassen sie nicht von diesem Brauch.

Bei der öffentlichen Zeremonie treten der Eiswett-Präsident, der Schatzmeister, der Notarius Publicus mit seiner Dezimalwaage, der Wundarzt, die Heiligen Drei Könige und neun Novizen auf. Die Tradition will es, dass sich die kostümierte Gesellschaft auf dem Punkendeich versammelt. Und wie jedes Jahr werden sich neugierige Bremer und ratlose Zugereiste, wieder fragen: Wieso denn eigentlich „Punkendeich“? Die Geschichte ist schnell erzählt. 1628 wurde zwischen dem Wall und Dobbensiel der Sieldeich aufgeschüttet. Er zog sich von der heutigen Bleicherstraßebis zum Sielwall.

Das Gelände wurde besiedelt und wegen steigender Pegelstände weiter aufgeschüttet. Dann, vor etwa 250 Jahren, im Zuge des Siebenjährigen Krieges, erhielt der Damm den Namen „Punkendeich“. Dies kam nicht von ungefähr. Als „Punke“ bezeichnete der Volksmund eine „liederliche, unzüchtige Frauenperson“ – eine Hure. Diese nämlich waren im Tross französicher, englischer und hannoverscher Truppen in Scharen nach Bremen gekommen.

Weil die Freudenmädchen innerhalb der Stadtmauern nicht geduldet wurden, gingen sie ihrem Gewerbe vor den Toren Bremens nach: Der Strassenstrich verlor nach dem Krieg seine Funktion, doch der Name Punkendeich blieb.

Erst als 1863 der vorgelagerte Osterdeich gebaut wurde, hat der Senat die Straßenschilder austauschen lassen. 1881 wurde der Flurname aus der amtlichen Stadtkarte getilgt. Doch kürzlich erst feierte er seine Auferstehung – in Form des Asphaltweges der Osterdeichwiese.

Der anrüchige Sinn der Benennung verschwand im Laufe der Jahre aus dem Gedächnis der Anwohner. Selbst honorige Senatoren und Bürgermeister errichteten am früheren Sündenpfuhl ihre stattlichen Domizile.

Übrigens liegt die sprachliche Verwandtschaft zwischen „Punken“ und den karnevalistischen „Funken“ auf der Hand. Obwohl nicht zweifelsfrei nachgewiesen, ist diese Vermutung in Anbetracht des rheinischen Brauchtums und der Kleidungsform der Beine schwingenden „Mariechen“ naheliegend.

Ein Skandal? Keineswegs. Vielmehr eine Erkenntnis zum besseren Verständnis heimischer Traditionen.

Alexej A. Tschernjak