Wenn Mathe lebendig wird

Der Bremer Lehrer Rüdiger Vernay hat an einem „lebendigen“ Mathe-Buch mitgearbeitet. Auf die Frage: „Wofür muss ich das wissen?“ ist: „für die nächste Arbeit“ keine Antwort mehr

Mathe ist eine trockene Sache. Deswegen liegt das Fach vielen nicht. Denken viele. Dass Mathe auch ganz anders unterrichtet werden kann, zeigt das neue Schulbuch „Mathe live“ aus dem Klett-Verlag, an dem der begeisterte Bremer Mathelehrer Rüdiger Vernay (Gesamtschule Mitte) mitgearbeitet hat. Wir wollten uns den Trick erklären lassen.

taz: Wie ist ein schlechtes Mathe-Buch? Rüdiger Vernay: Wenn man nach einem inhaltlich hierarchisierenden Lehrplan vorgeht, ist vielen Schülerinnen und Schülern nicht deutlich zu machen, wofür sie das brauchen.

Uns hat man früher gesagt: Das baut alles aufeinander auf, und du wirst es am Ende schon verstehen… Genau. Und: „Das musst du für die nächste Arbeit wissen.“ In der Denkweise der Mathematik-Didaktik gibt es einen Wandel, der sich zuerst in den Lehrplänen in Nordrhein-Westfalen niedergeschlagen hat. Wir gehen heute von der Erfahrungs- und Erlebniswelt der Schülerinnen und Schüler aus und gucken: Wo steckt da Mathematik drin?

Der erste Band „Mathematik live“ für die 5. Klasse beginnt mit dem Satz: „Nun seid ihr in einer neuen Klasse.“ Was hat das mit Mathe zu tun? Wenn man über Hobbys redet oder über die Entfernung des Schulwegs, dann kann man das sortieren, vergleichen. Wer hat den kürzesten Schulweg? Wie orientiere ich mich auf dem Stadtplan? Wie viele Kinder sind wie groß?

Wenn man im Mathe-Unterricht solche lebendigen Fragen erörtert, verpasst man da nicht zu viel vom Stoff? Es ist sehr schwer, sich von dem Vollständigkeitswahn zu verabschieden. Aber ich kann den Schülern sowieso nicht mehr ein vollständiges Mathe-Curriculum beibringen. Wahrscheinlichkeitsdenken und Statistik sind dazugekommen, Umgehen mit Computern sollen die Schüler lernen. Man kann die Schüler besser für Mathe gewinnen, wenn man ihnen exemplarisch klar machen kann: Dafür braucht ihr das. Prozentrechnen lernt man besser, wenn es um das Taschengeld geht und um günstige Zinssätze. Es gibt natürlich auch immer wieder Kapitel, die sind stark innermathematisch geprägt. Die Auswahl der Inhalte in „Mathe live“ ist allerdings nicht beliebig. Wir haben uns sehr genau überlegt, welche Inhalte den intendierten mathematischen „Stoff“ transportieren können.

Zu den Rauminhalten kommen Sie in der 8. Klasse über das Problem der außergewöhnlichen Wohnhäuser. Da werden einzelne geometrische Formen eingeführt, soweit man sie für die Problemlösung braucht. Und über diese Strukturierung entsteht eine andere Art, mit Mathe umzugehen. Man muss nicht den gesamten Komplex der Geometrie gleich mit erschlagen. Wir wollen weg von der frontalen Belehrung – auch in Mathe. Ein solches Vorgehen macht es aber notwendig, von Zeit zu Zeit Systematisierungsphasen vorzusehen, in denen bisher gelernte Inhalte zusammengebracht werden. Dann muss geschaut werden, was gehört wie zusammen, welche gemeinsame mathematische Leitidee bildet die Klammer. Ein guter Anlass zu wiederholen und gleichzeitig mathematische Ideen zu vertiefen.

Wie ist der Verlag auf Sie gekommen? Ich hatte Aufsätze in Mathe-Zeitschriften veröffentlich.

Wie kommen Ihre Schüler in Mathe nach der Gesamtschule in weiterführenden Schulen zurecht? Wir haben die Rückmeldungen der Oberstufen. Unsere Schüler haben keine Lücken gegenüber Schülern, die an anderen Schulen nach anderen Büchern gelernt haben. Es wird immer herausgehoben, dass die Art, an Aufgaben heranzugehen, bei unseren Schülern oft anders ist. Positiv anders. Sie haben gelernt, in Gruppen zu arbeiten, und sie haben gelernt, an Problemlösungen selbstständiger heranzugehen.

Hat das Landesinstitut für Schule registriert, dass es hier ein ganz anderes Mathe-Buch gibt? Werden Sie jetzt häufig zu Lehrerfortbildungen eingeladen? Da ist man sehr liberal. Wir haben Lehrpläne, die relativ kompatibel sind mit dem Ansatz dieses Buches. Wir machen etwas daraus an der Gesamtschule Mitte und hoffen, dass es auf andere Schulen Auswirkungen hat.

Fragen: Klaus Wolschner