Neue Mathe-Bücher:
Mit Glücksspielen rechnen lernen
Das mit der Liebe entscheidet sich manchmal auf den ersten Blick. Auch Mathematik-Bücher müssen nicht grau in grau sein, sie können zum Hinsehen verlocken: ansprechend, schön anzusehen. Farbe bringt nicht nur optische Reize in Bücher, sie kann auch gliedern, die Gestaltung übersichtlicher machen. Das Grau in Grau der alten Mathe-Bücher signalisiert dagegen: verstaubt.
Schulbücher, die älter sind als 10 oder 15 Jahre, sollten eigentlich verboten werden. Wer solche Bücher noch ausgibt, versündigt sich an der Motivation der SchülerInnen. Schüler sollten dagegen streiken, um von der Schule eine zeitgemäße Ausstattung zu erzwingen.
Zum Beispiel Hahn/Dzewas aus dem Westermann-Verlag. Die erste Seite des Bandes für den 8. Jahrgang beginnt mit der Überschrift „Funktionen“. Immerhin zeigt sie einen Jungen auf dem Fahrrad, die Fehlerquote eines schlecht eingestellter Kilometerzählers wird grafisch dargestellt. Das war sicherlich 1990 gut gemeint. Schon ab der fünften Seite ist es aber vorbei mit der Didaktik; da werden Aufgaben gepaukt, Deutsche Mark in Francs umgerechnet. Das Buch Mathematik – Neue Wege (Schroedel) zeigt, wie man das Thema „Lineare Funktionen“ heute gestalten würde: Optisch gut gegliedert, ansprechend. Mathe live (Klett) geht noch einen Schritt weiter: Hier heißt die Überschrift des Kapitels nicht mehr „Funktionen“, sondern „Veränderungen“. Da werden „Schaubildgeschichten“ entschlüsselt.
Alte Mathe-Bücher sprechen über Dritte, wenn sie sich bemühen, didaktisch zu werden („Henryk hat zu seinem Geburtstag einen Kilometerzähler für sein Fahrrad geschenkt bekommen…“). Moderne Mathe-Bücher sprechen die Schüler direkt an: „Sucht euch verschieden geformte Gefäße und untersucht, wie die Wasserhöhe in den Gefäßen ansteigt. Tragt eure Messungen in eine Tabelle ein…“
Mehrere Seiten später wird dann erklärt, dass man solche Zusammenhänge in der Mathematik „Funktion“ nennt. Schüler werden nicht erschlagen von dem Stoff, sondern angeleitet, Alltags-Situationen mit mathematischen Instrumenten zu beschreiben. Und so verlockt, sich in die Vermessungsweise der Instrumente hineinzudenken.
Am Thema „Wahrscheinlichkeitsrechnung“ im 8. Jahrgang kann man moderne Mathe-Bücher erkennten. Bei dem guten alten Hahn/Dzewas von 1990 kommt das Thema ganz hinten; auf der zweiten Seite des Kapitels lernen wir: „Eine Funktion, die jedem Element der Ergebnismenge eines Zufallsexperiments genau eine rationale Zahl zuordnet, heißt Zufallsgröße.“ Bei Mathe live heißt das ganze Kapitel nicht „Wahrscheinlichkeitsrechnung“, sondern „Glücksspiele“. Da werden dann Münzen und Würfel geworfen. Und man kann sich sehr gut vorstellen, dass die Schüler irgendwann ihren Eltern triumphierend und exakt vorrechnen, wie gering ihre Chance beim Lotto ist. K.W.
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